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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Aquitanien 1999

ein Reisebericht

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Lothringen, Chartres, Loire, Côte d’Argent, Béarn, Lourdes
 

Wir fahren nach Mimizan. Der alte Ortskern ist zum größten Teil vom Dünensand begraben. Die Ruinen einer Benediktiner-Abtei aus dem 13. Jahrhundert hat man wieder ausgebuddelt. Hätte man auch sein lassen können. Auf der Terrasse eines Plastik-Bistros lernen wir beim Studium der mehrsprachigen hochglanzbunten Speise¬karte, daß man keinen Café au lait sondern weltmännisch einen Grand crème bestellt. Auf dem Markt sehen wir die Fische, die sich so gern von den Bran¬dungs¬wellen wiegen lassen: Gestatten, Mules du bassin... Auf dem Rückweg bummeln wir noch ein bißchen durch die Landes. Rütteln in Mézos am geschlossenen Portal der kleinen Wehrkirche, gehen über den Dorffriedhof am Rande der verlassenen Landstraße, über der ein tiefer grauer Himmel hängt. Auf dem Grabstein eines 21-jährigen Mädchens der wunderschöne Spruch: Entre elles les étoiles ne parlent que de toi (Unter sich sprechen die Sterne nur von Dir).

Auf dem Platz hauen wir uns eine Büchse Bohnen in den Topf. Was heißt "Bohnen"... das hier sind Flageolets à la farine de blé, also kleine weiße Bohnen in Mehlpampe. Die kosten bei Aldi 69 Pfennige, was die Büchse Flageolets gekostet hat, verraten wir nicht...

Die schwarzen Wolken, die drohend am Himmel aufgezogen sind, können uns von einem Strandspaziergang nicht abhalten. Der gestern von uns interviewte Hobby-Angler ruft uns ein freudiges Bonjour zu und freut sich, als wir ihm erzählen, dass wir die brandungsgeilen Fische heute auf dem Markt in Mimizan entdeckt haben. Dann wird er ernst und warnt uns vor dem schreck¬lichen Unwetter, das gleich einsetzen wird. Tatsächlich fängt es an zu regnen - aber gerade als wir uns über die Düne in Sicher¬heit bringen wollen, ist alles vorbei und wir treiben uns noch eine ganze Stunde lang am Ozean herum. Wir beschlie¬ßen, weder einen KFZ-Mechaniker noch einen Angler noch sonst einen lie¬benswerten Franzosen jemals wieder als Wetterpropheten zu akzep¬tieren.

Nach einer Käseorgie (wir gebens auf, uns die Namen zu merken) gehen wir noch mal kurz auf die Düne. Obwohl der Wind sich gelegt hat, immer noch eine riesige Brandung. Der Abend ist ganz mild. Ein halber Mond am Sternenhimmel. Vom steten Donnern der Brandung ist der Kopf wie leergefegt. Vorm Zubettgehen genießen wir bei einem Glas Wein noch die abendliche Meeresbrise, da bewegt sich ein großes braunes Blatt hinter unserem Stuhl langsam vorwärts. Ein Blatt? Wir greifen zur Taschenlampe - das Blatt entpuppt sich als dicke braune Kröte, die uns aus klugen Äuglein ebenso überrascht anstarrt wie wir sie.

Nach 10 Stunden Schlaf ruft der Ozean, noch ist es kühl, ein Strandspaziergang massiert die Fußsohlen und bringt den Kreis¬lauf in Schwung. In Richtung St. Girons hat sich heute ein Filmteam am Strand ausgebreitet. In ihren geländegängigen Spielzeugautos zeichnen die Hiwis silberne Spuren in den Sand. Dabei versuchen sie cool und sehr sehr gestreßt auszusehen. Besonders als wir unter relativer Lebensgefahr, mit dem rechten Fuß schon in der stei¬genden Flut, ihr mit rotweißen Plastikbändern abgesperrtes Gebiet passieren wollen, in dem ein paar gelangweilte blonde Damen interniert sind, die über die Sandkörner fluchen, die sich auf ihren frisch lackierten Fingernägeln niederlassen. Nachdem wir festgestellt haben, daß es niemanden gibt, den man erkannt haben müßte, lassen wir sie weiter ihren Werbe¬spot drehen und stellen später auf dem Rückweg fest: dies dynamisch ge¬langweilte Pack hat die Tatsache, daß es hier eine Flut gibt, glatt vergessen: Ein schwerer Kran droht langsam im Treibsand zu versinken, mit viel Geschrei kann er gerade noch gerettet werden. Auf dem Parkplatz, der um diese Jahreszeit normalerweise ziem¬lich leer ist, hatten wir auf dem Hinweg mehrere große LKWs und ein riesiges Zelt gesehen und gedacht, daß heute ein Markt stattfinde. Auf dem Rückweg duftet der ganze Platz betörend nach gebratenem und gesottenem Meeresgetier. Der größte LKW ist ein mobiler Küchenwagen, in dem zwei Köche die Pfannen schwenken. Im Zelt läßt sich die beneidenswerte Film-Bagage von mehreren Hiwis köstlich duftende Platten servieren.

Am Rande des Parkplatzes, mit Blick auf den Ozean, sitzt seit ein paar Tagen in einem Rollstuhl eine junge Frau im Bikini. Neben ihr liegt ein großer Hund. Ihr Mann kommt gerade mit einem bunten Brett unterm Arm vom Wellenreiten zurück. Wir erinnern uns, die beiden bereits in Lit-et-Mixe auf der Terrasse eines Restaurants gesehen zu haben, wo sie liebevoll von ihm ge¬füttert wurde.

Mittags wird es warm. Im Schutz der Düne liegen wir im Sand - allerdings nur 20 Minuten. Vom Land her kommt ein starker Wind auf, der uns im Nu mit Sandkörnchen bedeckt. Nach einer Lese-Siesta im Windschatten des Autos beschließen wir, nach St. Girons zu fahren, das im Reiseführer als reizendes Kleinstädtchen beschrieben wird. Mehr als die Werkstatt unseres KFZ-Mechanikers und eine stinkende Papierfabrik am Rande der Dorfstraße können wir nicht entdecken. Wir sind verwirrt und stellen nach einigem Kartenstudium fest, dass der Reiseführer ein ganz anderes St. Girons meint, das irgendwo weit entfernt im Landesinneren liegt. Unseren Nachmittags-Grand-Crème trinken wir auf der Rück¬fahrt in Léon. Vor dem Café beobachten wir zwei Gestal¬ten, die aussehen, als wären sie gerade vom Mars gefallen: Männlein und Weiblein, gut in den Vierzigern, in silbrig-glän¬zende, hautenge Anzüge gezwängt, besteigen dynamisch ihre Moun¬tain-Bikes. Durch unsere Spaziergänge im Taunus sind wir an kuriose Outfits dieser Art gewöhnt - diese hier hätten aber gewonnen... Selbstverständlich besitzt Léon eine Kirche, doch außer einem scheußlichen Kriegerdenkmal in derselben bleibt nichts in Erinnerung.

Morgens um 8:00 Uhr ist es mild und feucht unter tiefhängenden Wolken. Zumindest können wir im Sitzen frühstücken ohne daß es von oben in den Tee tröpfelt. Zum Abschied versammeln sich noch mal alle Spatzen des Platzes um unseren Tisch. Nur der bunt¬gefiederte Opa fehlt. Exitus?

Nach einer Runde Boule am Strand, wo der Ozean heute die Sand¬bänke zu bräunlicher Brühe aufschäumt, ziehen wir uns frische Spaghetti mit Thunfisch rein.

Dann steigt über der Düne eine schwarze Wolkenwand auf. Ein Gewitter bricht los mit Regen und heftigem Sturm. Wir binden das Iglu am Auto fest und flüchten ins Cockpit. Von da können wir alles gut über¬blicken. Offensichtlich befinden wir uns mitten im Windkanal an exponierter Stelle. Da das Auto schwerlich wegfliegen kann und das Iglu brav einen Kotau nach dem anderen macht ohne sich in die Luft zu erheben, können wir relativ gelassen beobachten, was in unserer Nachbarschaft vor sich geht. Da herrscht zum Teil hektische Betriebsamkeit. Iglus werden am Stück zu geschützteren Stellen getragen. Ein Pavillon, den mehrere Leute versuchen abzu¬bauen, wird vom Sturm in seine Einzelteile zerlegt. Auf einem kleinen Hügel, fünfzig Meter von uns entfernt, kämpft ein junger Mann tapfer mit seinem Hausrat, der ihm um die Ohren fliegt. Als wir merken, daß seine Lethargie entsprechend dem Quadrat der Windgeschwindig¬keit zunimmt während sein Zelt immer mehr ab¬nimmt, stürze ich durchs Tosen der Elemente hin zu diesem unglücklichen Menschen, um ihn zu fragen, ob ich ihm helfen kann. Nachdem er kapiert hat, daß ich nicht gekommen bin, um ihn auszu¬rauben, sondern um ihm zu helfen, muß er erstmal überlegen, ob er Hilfe braucht. Ich versuche ihm in der Pause zwischen zwei krachenden Sturmböen klarzumachen, daß er sich doch bitte in sein Scheißauto setzen soll, als ihm kleinlaut einfällt, daß er seinen Autoschlüssel sucht. Meine Hilfe er¬schöpft sich schließlich in dem Versuch, die Zeltplane so weit anzuheben, daß er reinkriechen kann, um in einem Chaos von dreckigem Geschirr, Surfausrüstung und ungewaschenen Kla¬motten nach einem Autoschlüssel der BMW-Mittelklasse zu suchen, den er dann in der rechten zweituntersten Tasche seines Wellenreitoutfits findet, was ich aber erst nachdem ich wieder im Cockpit sitze, mitkriege. Der Sturm hat die Überreste seines Zeltes inzwischen dekora¬tiv um den Stamm einer Schirmpinie gewickelt. Als der Sturm etwas abzuflauen scheint, vertrauen wir unser Zelt der Hl. Veronika an und steigen auf die Düne. Die fliegt uns in Form von geballten Ladungen Sand fast um die Ohren. Sturm und Ozean brüllen um die Wette, verbale Verständigung ist kaum möglich, zwischen den Zähnen knirscht feiner Sand. Lange halten wir es nicht aus, die Millionen Sand¬körner, die mit ungeheurer Wucht gegen unsere Beine gepeitscht werden, tun bereits weh. Also Abstieg, das Iglu begrüßt uns mit einem artigen, tiefen Knicks. Der Sturm hält an. Wir beschweren das Zelt mit unseren müden Körpern und schaffen es irgendwann einzuschlafen. Ein unge¬heures Krachen lässt uns gegen zwei Uhr nachts senkrecht im Bett sitzen - ein Gewitter steht genau über uns. Während wir noch überlegen, ob wir uns ins Auto flüchten sollen, entfernt sich das Unwetter, um aber noch stundenlang mit abnehmender Stärke zwischen Ozean und Land hin und her zu irren. Irgendwann ist uns alles egal, und wir fallen in tiefen Schlaf.

Morgens hat der Sturm etwas nachgelassen, Wolken jagen über unsere Köpfe, barmherzigerweise fällt kein Regen, so dass wir das Zelt im Trocknen abbauen können. Unsere Mannheimer Nachbarin, die gestern Abend angekommen war, schlappt zum Sanitaire. Sie hat die halbe Nacht im Auto zuge¬bracht und erkundigt sich übernächtigt, ob es hier immer so windig ist.

Die Reise geht in Richtung spanische Grenze, vorbei an den Touristenorten Hossegor und Capbreton bis nach Bayonne. Dort finden wir ganz in der Nähe der Kathedrale einen Parkplatz, wo nicht abkassiert wird. Die Kathedrale Ste-Marie hat ein paar nette Glasfenster, die Fassade ist teilweise eingerüstet. Ende des 13. Jh. wurde der Bau begonnen, im 16. Jh. fertiggestellt. Laut Reiseführer ver¬zögerte sich der Bau durch die kriegerischen Ereignisse der Zeit - mit anderen Worten, die Malocher mussten ihr Leben anderswo lassen als beim Bau der Kirche. An einem Pfeiler im Kreuzgang des dazu gehörigen Klosters erinnert eine aus dem Stein gehauene und schon arg verwitterte Jakobsmuschel daran, daß auch hier eine wichtige Station des Jakobsweges war.

In den Gassen zwischen Kathedrale und dem Flüßchen Nive, das an der Place de la Liberté in den Adour mündet, behaglich klein¬bürgerliches Ambiente. Kaum zu glauben, daß hinter diesen Re¬naissancemauern Ende des 17. Jahrhunderts das Bajonett erfunden wurde, mit dem die französische Infanterie ab 1703 in den Krieg geschickt wurde. Allerdings hat der berühmte baskische Spazier¬stock, die Makhila, neben der Lederschlaufe und den gestanzten Schnitzereien, auch heute noch eine massive Eisenspitze, die ihn im Nahkampf mit Pyrenäenschafen zu einer gefürch¬teten Waffe macht. Obwohl uns nichts ferner liegt als Nahkampf mit wem auch immer, erwerben wir ein solches hochglanzlackiertes Stöckchen.

Auf der anderen Seite der Nive verändert sich das Straßenbild. Die Häuser sind ärmlich proletarisch. An den Wänden politische Parolen in baskisch und französisch. Hauptsächlich Forderungen nach der Freilassung politischer Gefangener. Wir vermeinen eine Häufung von kleinen Druckereien zu bemerken. Vielleicht sind es aber auch nur Copy-Shops. Unseren Durst löschen wir noch in Bayonne und reisen weiter nach Biarritz, in das Bayonne fast unmerklich übergeht. Aus dem Autofenster heraus betrachtet sieht es hier, zumindest in der Straße, durch die wir fahren, genau so aus, wie wir erwartet hatten. Weiß und Gold. Bäderarchitektur der Belle Epoque. Dem Zuckerbäcker abgeschaut. Damit es den Reichen und Schönen, oder was sich dafür hielt und hält, die Badereise versüße. Was wir vom Strand sehen, erinnert eher an den Berliner Wannsee. Die Küsten¬straße, wo wir das Auto kurz verlassen, bietet einen berauschen¬den Blick über die Bucht mit der berühmten Holzbrücke, die das Land mit dem Rocher de la Vierge verbindet. Es ist zwar angenehm warm, doch so stürmisch, dass die salzige Gischt meter¬hoch an der Steinballustrade, hinter der wir stehen, empor¬donnert und eine feine, neblige Nässe auf uns niedergehen läßt.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2003
 
Unsere Linkempfehlung: Reisespinne
 

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