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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Dordogne 1999

ein Reisebericht

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Beynac, Sarlat, Abri du Cap Blanc, Les Eyzies, Font de Gaume, Roc de Cazelle, Commarque, Monpazier, Oradour sur Glane
 
Beeindruckend die Jagdszenen. Zwei Neandertaler greifen ein riesiges Wollnashorn an. Die grobknochigen Gestalten sind voll durchgearbeitet. Man spürt die Anspan¬nung der Sehnen und Mus¬keln. In den Gesichtern mit den starken Augenwülsten und der fliehenden Stirn Gier und Angst. Verständlich angesichts der ärmlichen Waffen, mit denen man diesem Koloß gegenübertritt. Dann die vier Gestalten, die ein Mammut jagen. Als Waffen dienen Knüppel, ein Speer und ein in den hocherhoben¬en Händen gehal¬tener Felsbrocken. Allerdings hat man das riesige Tier vorher in eine Falle gelockt, ein von dürren Ästen bedecktes Erdloch, in dem vier Fünftel des riesigen Körpers verschwunden sind. So ließ es sich vor 40.000 Jahren wesentlich commoder erlegen -und ebensoviele Jahre später wesentlich einfacher darstellen. Ist da nicht über einen Zeitraum von zehntausenden von Jahren eine ähnliche Art von Intelligenz - nur mit anderen Zwängen - am Werke? Ein paar Szenen weiter steht Herr Cro-Magnon in der teichartigen Vertiefung eines Bächleins und lauert mit hocherhobenem Zweizack auf Fische. Am Ufer sein Weib mit prächtigen Titten und einem Ersatzspeer. Das erinnert schon sehr an ein Überlebenstrainings-Wochen¬ende globalisierter Manager.

Interessant eine neue Waffe, die von den Cro Magnon-Jägern erfunden wurde: der propulseur, eine Speerschleuder, heute noch von Eskimos und australischen Aborigines benutzt, die die Reichweite und Durchschlagskraft des Speeres erheblich ver¬größer¬te. Bis zur Intercontinentalrakete dauerte es dann nur noch ein paar tausend Jahre...

Am Ende des Parcours durch die Vergangenheit kann sich dann Familie Cro-Magnon '99 auf einem Pique-Nique Areal unter stroh¬gedeckten Hütten auf Eisen¬rosten Würstchen aus dem Intermarché braten. Kann Kraft schöpfen für den mor¬gigen Tag der Jagd aufs Schnäppchen. Bewaffnet mit Kredit¬karte und Plastik¬tüte in der Schlange vor der Kasse stehend, wird sie vielleicht etwas gelernt haben. Doch das ist nur eine sehr vage Hoffnung.

Nachmittags fahren wir zur nahen Grotte Font de Gaume. Die war über Jahre - mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen (Graffitis !) - der Geheimtreff der Dorf¬jugend gewesen, bis im Jahre 1901 der Lehrer des Ortes die Bedeutung der Höhle mehr erahnte als erkannte und seine Entdeckung nach Paris meldete. Im Gegensatz zu Lascaux ist Font de Gaume eine der wenigen für Besucher noch frei zugänglichen Höhlen in Europa. Die Zahl der täglichen Besucher darf aber 200 nicht überschreiten, deshalb ist es angebracht, rechtzeitig Tickets zu reservieren. Da noch Zeit bis zum Beginn der Führung ist, können wir gemächlich den nicht allzu steilen Pfad bis zum Eingang der Höhle emporsteigen. Dort sitzen wir - bis der Rest unserer 15-köpfigen Besuchergruppe eintrudelt - unter einem riesigen Abri, der sich wie eine versteinerte Meereswoge gegen den tief¬blauen Spätsommerhimmel abzeichnet. Wir träumen uns durch Jahr¬tausende zurück und können uns vorstellen, daß unter diesem gewaltigen Abri eine Cro Magnon-Großfamilie "komfortabel" leben konnte. Das Innere der Höhle selbst ist nie bewohnt gewesen. Es diente ausschließlich kultischen Zwecken oder als Atelier. Die Gelehr¬ten sind sich da noch nicht einig.

Nach freundlichen Ermahnungen, nichts zu berühren und Ruck¬säcke vor die Brust zu schnallen, betreten wir durch eine dicke Stahltür die Höhle. Die Temperatur im Innern beträgt konstante 13° C. In diffusem Licht geht es durch einen wenig mehr als schulterbreiten Gang, dessen Wände bis zur Decke bemalt sind. Das ahnen wir nur, zu sehen ist kaum etwas. Nach ein paar Metern hält unsere Führerin an. Mit dem elektrischen Zeigestock fährt sie die Konturen eines Bildes nach: zwei einan¬der zugewandte Rentiere, die sich zärtlich die Schnauze lecken. Rot- und Schwarztöne. Jede natürliche Unebenheit der Höhlenwand ist ausgenutzt worden, um die Plas¬tizität der Darstellung zu erhöhen. Die Linienführung ist von einer Leichtigkeit und Ele¬ganz, daß im Bauch die Schmetterlinge zu tanzen beginnen. Wir sehen Ab¬bildungen von Mammuts, Bisons, Wölfen, Pferden und immer wieder von Ren¬tieren. Im Gegensatz zu anderen Höhlen gibt es in Font de Gaume keine einzige Dar¬stellung von verwundeten oder toten Tieren. Die Bilder strahlen eine sanfte Poesie aus. Eine Besonderheit dieser Höhle ist die Verwendung sogenannter tektiformer Symbole: ein stilisiertes Dach auf zwei L-förmigen Stützen. Auch hier sind sich die Gelehrten über die Bedeutung bis heute nicht einig. Den Höhepunkt der Führung bildet auf dem Rückweg die Simulation authentischer Lichtverhältnisse. Als der schmale Gang für einen Moment in jungfräulicher Dunkelheit daliegt, knipst unsere Guide in Bodennähe eine kleine Lampe an, die in etwa das Licht einer Fettfunzel simuliert, bei dem damals gearbeitet wurde. In mehre¬ren Höhlen hat man diese Fettlampen (Prinzip Teelicht) gefun¬den. Die Wirkung der Lichtquelle ist verblüffend: direkt über der Lampe, wo bei normaler Beleuchtung nur ein schattenhaftes Gebilde zu sehen gewesen war, erscheint jetzt die Gestalt eines wunderbar durchgearbei¬teten kleinen schwarzen Bisons auf rotem Grund. Das ist so schön, daß man für einen Augenblick den Atem anhält.

Wieder draußen im hellen Licht des Spätnachmittags überwiegt in dem Gefühls¬wirrwarr, den die letzte Dreiviertelstunde verursacht hat, ein Gefühl der Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Erfahrung, daß es auch vor 20.000 Jahren einen oder mehrere Menschen gege¬ben haben muß, die, anstatt ihren Mitmenschen eins über die Rübe zu geben, lieber kleine Bisons an Höhlenwände malten...

Erschöpft aber glücklich kehren wir schließlich am späten Nachmittag zu unserer Plastik-Rund¬hütte am Ufer der Dordogne zurück. Ein paar Regentrop¬fen, ein paar Mücken. Auf dem Pont de Vicq stehen die Angler bewegungslos und schwarz im abendlichen Gegenlicht. Ein leises Plätschern begleitet ein gemächlich dahin¬gleitendes Fischerboot. Nachts regnet es.

Wir unternehmen heute einen weiteren Versuch, Commarque zu finden. Zunächst fahren wir wieder zum Abri du Cap Blanc, von wo aus man die Schlossruine so wunderbar sehen konnte. In Richtung Marquay halten wir an einem kleinen asphaltierten Weg, der nach Commarque führen muß. Wir gehen ein paar hundert Meter doch der Weg endet bei einem alten Gehöft. Der nächste Weg führt durch einen lichten Wald und endet ebenfalls bei einem Bauernhof. Von einer Burgruine keine Spur. Da Commarque uns nicht will, fahren wir weiter zu den Grottes du Roc de Cazelle. Das ausgedehnte Höhlenlabyrinth war fast immer von Menschen bewohnt. Anders als Font de Gaume oder Lascaux war dies kein magischer Ort der Kunst, sondern diente ganz profanen Wohn¬zwecken. Im Mittelalter ,vor allem während des 100-jährigen Kriegs, war es eine uneinnehmbare natürliche Festung. Man sieht die Vorratskammern, die Waffenkammer. Wasser tropft von den Decken. Der Kalkstein saugt sich voll wie ein Schwamm und gibt es dann Tropfen für Tropfen wieder her. Damit nicht irgendwann eine Tropfsteinhöhle entsteht, sind überall Blechnäpfe und andere Gefäße aufge¬stellt, in die es - klong, kloing - hinein¬tropft. Unter einem unscheinbaren Glasdeckel sehen wir eine ver¬steinerte Muschel, die erst 1998 ,also vor einem Jahr, ent¬deckt wurde. Neueste wissenschaftliche Datierungsmethoden geben ihr ein Alter von 180 Millionen (!) Jahren. Was bedeutet, daß diese Höhle einmal der Grund eines ungeheuren Ozeans gewesen sein muß. In dem die Höhle umgebenden Wald sehen wir die steinerne Abbildung eines urzeitlichen Monsters, des Coulobre, einer Mischung aus Krokodil und Bär, das die prähistorischen Wälder unsicher gemacht haben soll. Es könnte allerdings auch die französische Version des bayerischen "Wolpertinger" sein...

Am Ende des Rundgangs befindet sich der Bereich, der bis 1966 (!) bewohnt war. Der Name der letzten Bewohner steht in verwitterten Buch¬staben noch am Briefkasten. Alle Räume sind in den Abri hinein¬gebaut. Es gibt einen Stall mit echten Kaninchen, die neugierig durch den Maschendraht gucken. Eine Henne mit reizenden Küklein wuselt im Kräutergarten. In den Remisen steht altes landwirt¬schaft¬liches Gerät herum. An der Wand zur Wohnstube lehnt ein verroste¬tes Fahrrad aus den Dreißiger Jahren. Die Wohnstube selbst erweckt den Eindruck, als könnten die Bewohner jeden Augenblick zurückkommen. Auf dem großen Eßtisch mit blau¬weiß kariertem Tischtuch steht eine angebrochene Flasche Rot¬wein. Daneben ein harter Laib Brot. Eine Suppenterrine. Zwei Teller. An den Wänden Borde mit Tongeschirr. Ein alter Gasherd. Eine hölzerne Stand¬uhr. Auf dem Radioapparat, aus dem vom Band Nachrichten aus der Zeit der deutschen Besatzung ertönen, liegen verstaubte Ausgaben einer Résistance-Zeitung von 1946. Auf dem Eßtisch Schulhefte aus dem Jahr 1929. An der Wand über dem Bett verblichene Foto¬grafien. Ein junger Mann in Uniform. Ein paar bunte Ordensbän¬der. Ein bißchen militärisches Blech. Ein wunder¬bares Museum. Wir wundern uns, dass man uns hier ganz allein herumstöbern lässt - da sehen wir die Video-Kamera und auch den Hinweis auf diese. Als wir den Ausgang passieren, sitzt der Überwacher vor dem Häuschen mit einem Kaffee und liest Zeitung. Bonjour, Monsieur.

Da wir es immer noch nicht aufgegeben haben, Commarque zu fin¬den, fahren wir ein paar Kilometer zurück bis zum nächsten Abzweig, wo es auf einer kleinen Straße zum Dörfchen Sireuil geht. Kurz vorm Ort, der aus einer Handvoll alter Häuser und einer noch älteren, verschlosse¬nen Kirche besteht, ein Hinweisschild nach Commarque! Wir folgen dem besseren Feldweg, der an einsamen Gehöften und leider schon abgeernteten winzigen Weinbergen vorbei führt. Der Weg nimmt kein Ende. Von Commarque keine Spur. Links geht ein breiterer Waldweg ab, wo ein einziges Auto geparkt ist. Das gehört einem Wanderer, der uns aus Richtung Marquay entgegen¬kommt und den wir freundlich fragen, wo's denn hier s.v.p. nach Commarque geht. Das kann er uns sagen. Von Cap Blanc gäbe es einen schmalen Pfad durchs Tal der Beune. Der wäre aber wegen der Regenfälle der letzten Tage wahrscheinlich unpassierbar. Die andere Möglichkeit wäre, da wo sein Auto steht, den Waldweg hinabzusteigen. Auf unser banges Fragen mur¬melt er etwas von drei bis vier Kilometern und fragt freundlich grinsend c'est trop...? Das fragen wir uns auch. Da er beteuert hatte, Commarque sei auf keinen Fall per Auto zu erreichen, parken wir unseren Opel hinter seinem Renault, ziehen uns festes Schuhwerk an, während er sich aus seinen Wanderbotten quält und uns nochmal bestätigt, daß wir auf dem richtigen Weg seien, nehmen unsere Schirme, da es sehr nach Regen aussieht und machen uns auf den Weg. Der führt gepflegt und fahrzeugbreit geschottert nach unten. Immer nach unten. Wogegen nichts zu sagen wäre, wenn man nicht wüßte, daß man den gleichen Weg wieder zurück müßte. Egal. Wir lassen uns hinunterziehen. Vorbei an Ausblicken auf steile Hügel und vorbei an ein oder zwei Höfen, die aussehen, als seien sie unmittelbar nach dem Hundertjährigen Krieg verlassen worden. Immer wenn wir meinen, jetzt müßte doch mal was kommen, führt der Weg ein bißchen steiler nach unten. Dann, am Ende eines Tunnels aus den aquariumgrünen Kronen dünner Eichenstämmchen, zwei unscheinbare Holzschildchen: nach links Gardien, geradeaus: Chateau. Wir gehen geradeaus. Eine Lichtung. Ein kleines Tal. Auf einem Kalksteinfelsen sehen wir die zerfetzten Mauern und Türme von Commarque.

Wir sind heute die einzigen Besucher und fühlen uns sehr klein unter dem düsteren Himmel. Der Talboden ist von grünen Sumpf¬pflanzen überwuchert, die jedes Geräusch schlucken. Trockenen Fußes kann man sich nur direkt am Felsen bewegen. Auch hier sehen wir die Vertiefungen im Kalkstein, die im Mittelalter den Leibeignen zur Befestigung ihrer Unterkünfte dienten. Als es heftig zu regnen beginnt, machen wir es wie unsere Vorfahren vor 20.000 Jahren und suchen Schutz unter dem breit ausladenden Abri. Eine kleine verschlossene Stahltür führt wahrscheinlich zur Grotte de la Grèze, in der Malereien entdeckt wurden. Vor der Tür liegt ein Strauß vertrockneter Blumen, die hier auf der Lichtung wachsen. An einer Wand des Abris vermeinen wir die Umrisse eines Bisons zu erkennen. Ganz deutlich sind der bemooste Körper, der Kopf, die Beine auszumachen. Auch wenn es wahrscheinlich nur eine Laune der Natur ist, wird uns doch ganz prähistorisch zu Mute. Nachdem wir uns von dem großen Holzschild, daß Grabungen bei Geldstrafe lt. einem Gesetz von 1913 verboten sind, haben beeindrucken lassen, versuchen wir noch, auf Steinen balancierend, ans andere Ufer der Beune zu gelangen, wo auch die in den Fels gehauenen Überreste mensch¬licher Behausungen zu erkennen sind. Doch es ist zu matschig. Dafür finden wir am Rand der Lichtung ein seltsam verknorztes trockenes Ästlein, das wir in den Rang eines Druidenzweiges erheben, da die ganze Magie des Ortes in ihm ist. Nachdem wir noch einen Blick auf das ca. zwei Kilometer Luftlinie entfernte Chateau Laussel geworfen haben, dessen Dächer wie eine Fata Morgana über den grünen Eichenwipfeln zu schweben scheinen und in dessen Nähe die kleine berühmte Venus-Statuette gefunden wurde, machen wir uns auf den Rückweg. Wir sind kaum ein paar hundert Meter den steilen Weg emporge¬stiegen, als uns wie eine außerirdische Erscheinung ein Auto mit französischem Nummernschild entgegenkommt. Mit zwei jungen Leuten drin. Die biegen erst ab zum Gardien, wo man sich wahr¬scheinlich die Schlüssel zum Chateau und zur Grotte mit den Malereien holen kann, und fahren dann weiter runter zum Chateau. Mit vielen grimmigen Gedanken im Kopf und einem Schirm in der einen und einem Druidenzweig in der anderen Hand brauchen wir für den Aufstieg nur 5 Minuten länger als für den Hinweg...

Abends wandern wir unter mit Efeu bewachsenen Birken und Buchen an der Dordogne entlang, alles ist in ein helles, grünes Licht getaucht. Der Fluss atmet sanft wie ein schlafendes Tier. Ein kleines Fischerboot mit zwei schweigenden Gestalten darin. Auch wir reden nicht viel, es ist, als ob wir schon immer hier gegangen wären. Von Minute zu Minute verändert sich der Fluss. Die untergehende Sonne taucht alles in rote Farben, die allmählich von aufsteigenden Nebeln verschluckt werden.
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© Klaus Bölling, Frankfurt 1999
 
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