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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Nordfrankreich - Argonner Wald, September 2000

ein Reisebericht

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Calais, Picardie, Argonner-Wald, Verdun

Um 6.30 Uhr legen wir im Hafen von Calais an. England ist ver¬blaßt zu einem winzigen hellen Streifen am nördlichen Horizont. Das erste, was wir bemerken nach Verlassen der Fähre, sind kleine gelbe Schilder am Straßenrand. Auf denen steht: Keep right! Da wir noch einkaufen wollen, parken wir das Auto auf dem ALDI-Parkplatz und gehen zu Fuß in Richtung Innenstadt. Nach zehn Minuten erreichen wir den großen Platz, wo als eines der weni¬gen noch erhalten gebliebenen historischen Gebäude das monumen¬tale Rathaus steht. Wir suchen Rodins 'Bürger von Calais'. Nicht ahnend, daß wir nur knapp 100 Meter von der Skulptur entfernt sind, und in der Annahme, daß jeder Mensch in Calais diese kennt, frage ich eine zufällig des Weges kommen¬de, alles andere als 'gutbürgerlich', eher nach Sozial¬hilfe¬empfängerin aussehende junge Frau nach den "Bourgeois de Calais'. Mit einer vagen Geste weist sie in Richtung Innen¬stadt und murmelt verbittert etwas wie 'Wenn Sie in diese Richtung weiter¬gehen, werden sie das Pack schon sehen'... Wir sind genauso verwirrt wie die Frau, machen ein paar Schrit¬te und stehen unvermittelt vor der bescheidenen Bronze-Skulptur, die sich grünspan-überzogen, von niemandem außer uns beachtet, so lebendig in den Morgen-Himmel reckt, daß sich uns, während wir sie mehrmals umrunden, die Nackenhaare sträuben und ein Kribbeln unter der Bauchdecke signalisiert: Achtung Kunst!...

Früher Morgen in einer fremden Stadt, die langsam leben¬dig wird. Alle zehn Meter weht uns der Duft von frischen Croissants in die Nase. R. ist allmählich so weit, daß sie in jedes geöffnete Café gehen würde, wo sie zu diesem Duft einen Grand Crème bekäme. Was mich äu¬ßerst kribbelig macht, da ich nicht nach einem Café sondern nach dem Café an sich suche. Gerade als wir anfangen wollen zu strei¬ten, sehen wir das, was wir gesucht haben. Gemütlich zurückgelehnt, an einem runden Marmortischchen sitzend, beob¬achten wir den stärker werdenden Verkehr auf der großen Kreuzung vor dem alten Opernhaus. An den Nebentischen ein paar Schülerinnen und Schüler, ein eleganter älterer Monsieur mit seinem Lover. Vom Barhocker erhebt sich zufrieden ein junger Arbeitsloser und schwankt davon.

Wir fahren durch die Picardie. Vorbei an englischen Soldatenfriedhöfen aus dem Ersten Weltkrieg geht es durch flaches Land, das im Spätsommerlicht flimmert. Auf der Karte entdecken wir hinter Noyon einen Campingplatz, den wir nach längerem Herumirren auch finden. Wir trauen uns zunächst kaum, auf den Platz zu fahren, da eine, wie wir meinen, grimmig blickende alte Frau mit einem ebenso grimmig blickenden und wohl ebenso alten Hund zu ihren Füßen direkt im Eingangsbereich vor einem Wohn¬container sitzt. Als dann kurz darauf der, wie wir annehmen, Betreiber des Platzes uns freundlich mit Handschlag begrüßt hat, atmen wir auf. Genau in der Mitte des Platzes, der vielleicht 30 Stellplätze hat, ist eine kleine Wiese, wo noch zwei bis drei Zelte unseres Formats hinpassen. Dort installie¬ren wir uns. An der Art, wie man bemüht ist, uns freundlich-neugierig zu igno¬rieren, merken wir, daß es wohl nur alle Jahre einmal passiert, daß sich „Frem¬de“ hierher verirren. Alle anderen Stellplätze scheinen durch fest installierte und teilweise arg verwitterte Caravans belegt zu sein. Wir fühlen uns etwa so, als hätten wir unser Iglu mitten auf dem Marktplatz eines Dorfes im Vogelsberg aufgeschlagen - mit Einwilligung des Bürgermeisters natürlich.

Nach und nach kommen die Männer von der Arbeit nach Hause - wenn sie welche haben. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft drei Katzen mit Floh¬halsband. Ein Mitvierziger gurkt - Helm auf dem Kopf - mit dem Moped über den Platz. Vom Campingplatz durch einen asphaltierten Weg getrennt ein Areal mit drei Fischteichen, einem winzigen Kinderspielplatz, einer Minigolfanlage und einer überdachten Openair-Bar, die gleichzeitig als Büro dient. Irgendwo muß es auch einen Tennisplatz(!) geben, wie ich dem Stempel auf der Rechnung entnehmen kann. Bei der Suche nach einem Telefon entdecken wir in den Sanitäranlagen einen uralten Münz(!)-Fernsprecher (den letzten in Frankreich?)... Da wir eine noch fast volle Telefonkarte abzuarbeiten haben, machen wir uns auf den schweißtreibenden Weg ins öde Schlafdorf, wo wir ein Kartentelefon finden. Vor uns ein großes Gebäude mit drei Eingängen: In der Mitte die Mairie, links der Eingang zur Mädchen-, rechts zur Knaben¬schule. In der mächtigen Dorfkirche riecht es so, wie die Altkleider auf dem Frankfurter Flohmarkt riechen. Zurück auf dem Platz, sitzen wir erschöpft unter einer Birke vorm Iglu und sinnieren, ob wir vielleicht in einer modernen Version des kleinen gallischen Dorfes gelandet sind, wo die Zeit stehengeblieben und Frankreich noch so ist, wie es Friedrich Sieburg vor ca. 50 Jahren beschrieben hat. Bemüht, unseren Blicken etwas beiläufig Zerstreutes zu geben, beobachten wir aus den Augenwinkeln, was um uns herum vorgeht. Die von uns Beobachteten versuchen ebenfalls den Eindruck zu erwecken, als wären wir ihnen vollkom¬men gleichgültig.

Zu der alten Dame, die leicht gehbehindert ist, gehört ein ebenso alter Herr, der einen pfiffigen Eindruck macht. Gegen 18:00 Uhr werden beide mit sanftem Nachdruck von einem dicken, jungen Mann (Sohn?, Enkel?) liebevoll in die eine Hälfte des Wohncontainers bugsiert, dessen andere Hälfte von ihm selbst be¬wohnt wird. Auch mein dritter Versuch, bei der alten Dame einen Gruß anzu¬bringen, ist gescheitert. Blind? Rache für Sedan? Ein freundlicher Typ im Overall liegt unter einem uralten Ford-Transit und schraubt, während andere herumstehen und Kommentare abgeben. Auf dem Weg zum Klo ruft er mir ein ça va? zu, was ich mit einem freundlichen ça va! beantworte. Als ich zurückkomme, brummt der Motor wieder. Zigaretten werden verteilt. Man ist zufrieden und macht eine Probefahrt.

Am nächsten Morgen werden wir um 5:45 Uhr von der Müllabfuhr geweckt. Der Mopedfahrer knattert über den Platz. Die ersten Autos fahren vom Hof. Um 7:00 Uhr haben wir 14° unter einem grauen Himmel. Ein junger Mann sitzt im Vorzelt und starrt vor sich hin. Ein paar Meter weiter eine junge Frau, die auch ins Leere starrt. Zwei dicke Männer räumen schwere quadratische Steinplatten aus einem Vorzelt in den gestern reparierten Transit. Eine Frau steigt aus dem Auto mit 2 Baguettes unterm Arm. Das ca. 11-jährige Mädchen aus dem Nachbarzelt geht mit Ruck¬sack auf dem Rücken an mir vorbei. Ein junger Mann gibt sich im Gehen eine Dosis Asthma-Spray, holt sich Arbeitshandschuhe und hilft beim Steineräumen. Der alte Herr ist aufgestanden und steht auf dem Podest vor seinem Container, um nach dem Wetter zu schauen. Der Hund jault und wird gestreichelt. Ein junger Mann im Jogging-Anzug trägt dreckiges Geschirr zum Spülbecken. Drei Männer, Kippe im Mundwinkel, stehen um eine Mülltonne und palavern. Die Mutter von nebenan fährt ihre beiden Kids zur Schule. Ich werde von der Oma freundlich begrüßt. R. nicht!

Um 9:00 Uhr fahren wir auf einem Schleichweg nach Noyon. Dieses Kleinstädt¬chen mit 14.000 Einwohnern liegt im Schatten einer riesigen, düsteren Kathe¬drale. Die beiden gewaltigen stumpfen Türme wollen jedes Leben im Umkreis ersticken. Diese Kathedrale, Gotik hin Gotik her, kommt gleich auf unsere Liste der lebensfeind¬lichsten sakralen Bauwerke Frankreichs. Innen überwiegt primitiver Kitsch. In einer kleinen Seitenkapelle, die ganz mit dunkelbraunem Holz getäfelt ist, kniet vorm Altar eine junge Frau. Blondierte Haare, ausgewachsene Dauerwelle. Als wir unseren Rundgang fast beendet haben, sehen wir sie rausgehen - auf Stöckeln...

In einer anderen Seitenkapelle entdecken wir eine Steintafel, in die drei Namen eingraviert sind, danach ein MERCI, Escapés de Buckenwald (Überlebende von Buchenwald)... In diesem besonderen Fall kann man über die sehr ausgeprägte Begabung der Franzosen, deutsche Eigennamen, einem eigentümlichen Zwang gehorchend, fast immer falsch zu schreiben, nur noch mit dem Kopf schütteln. Vielleicht eine Art, das Grauen von Buchenwald ungewollt zu relativieren... Wir haben uns einen Café verdient, den bekommen wir in einem Bistro gegen¬über dem Geburtshaus Calvins. Eine Vormittagsstunde in einem franzö¬sischen Kleinstadt-Bistro, wo Zeitungen rascheln, wo es nach frischen Hörn¬chen und Café duftet, wo Madame der elektronischen Registrierkasse ein charmantes Tülütüt nach dem anderen entlockt - was kann es friedlicheres geben auf der Welt! Daß es hier nicht immer so friedlich war, entnehmen wir - zurück in Frankfurt - einem Bildband über den Ersten Weltkrieg, wo wir auf Fotos stoßen, die die Stadt Noyon einschließlich der Kathedrale nach der Beschießung durch die deutsche Artillerie zeigen. Die ganze Gegend lag damals im Zentrum der großen Materialschlachten der Westfront.

Wir fahren weiter nach Compiègne. Hübsches Provinzstädtchen mit einem Denkmal der Jeanne d’ Arc, einem Historischen Rathaus, einer Kirche, die wir nicht besichti¬gen, sowie einem futuristisch anmutenden, runden Klohäuschen mit voll elektronisch gesteuerter Tür. Da wir nicht sicher sind, ob wir die aus¬schlie߬lich in französisch geschriebene Bedienungsanleitung wirklich verstehen, verzichten wir... Im Wald von Compiègne umwandern wir den Etang de St. Pierre, in dessen Wasser sich die mit lichtem Laubwald bestandenen Ufer spiegeln. Der Tag ist klar und ruhig, nur das Quaken einer Ente durchbricht ab und zu die Stille. Da wir uns fast schon in der Bannmeile von Paris befinden, versuchen wir uns vorzu¬stellen, wie es am Wochenende hier aussehen mag... An einem zwischen zwei Seen gelegenen Forsthaus sagt uns ein verwittertes Holzschild, daß hier im Jahre 1876 ein Zyklon innerhalb von Minuten 100.000 Bäume plattgemacht hatte. Schließlich erreichen wir die Lichtung, auf der am 11. November 1918 der Waffen¬stillstand zwischen Frankreich und Deutschland unterzeichnet wurde, der die Niederlage des Deutschen Kaiserreichs besiegelte. Nur 22 Jahre später wurde an gleicher Stelle erneut ein Waffenstillstand geschlossen, der diesmal die Kapitulation Frankreichs vor der räuberischen Armee des Nazi-Reichs zum Inhalt hatte. Auf einer riesigen Steinplatte stehen folgende Worte eingemeißelt:

Le 11 Novembre

succomba

le criminel orgeuil

de l’empire allemand

VAINCU

par les

peuples libres

qu’il prétendait

Asservir

(Am 11. November unterlag der kriminelle Hochmut des Deutschen Reiches, besiegt von den freien Völkern, die er zu unterjochen beabsichtigte.)

Der Salonwagen (le „wagon“), in dem die historischen Ereignisse stattfanden, macht gerade Mittagspause. Wir begrüßen noch Marschall Foch auf seinem hohen Stein¬sockel, werfen einen Blick auf das Denkmal mit dem gestürzten preußischen Adler und fahren zurück zum Camping, wo wir feststellen, daß die gesamte Sanitäranlage heute gründlich geputzt wurde. Neben dem Behindertenklo, das alle vorzugsweise benutzen,weil es so geräu¬mig ist, klingelt abends das Telefon. Ein junges Mädchen geht ran, aber offenbar hat sich jemand verwählt. Über den Wasch¬becken gibt es kein Licht, alle Birnen sind rausgeschraubt, und heißes Wasser fließt nur für 9 FF extra in der Dusche.

Gegen 9:00 Uhr morgens taucht vorm Nachbarzelt ein junger Mann auf mit schwarzer Leder¬jacke und langem Schlips, Typ Gockel. Wir vermuten, am Wochenende besucht Papa die Mama mit den beiden Töchtern. Um allen zu demonstrieren, daß das nicht seine Szene ist, hat er sich fein gemacht. Gestern Abend war ein anderer Typ auf einem Motorroller angekommen, hatte das Vorzelt eines Caravans aufgemacht, ein paar Minuten mit seinem Handy telefoniert und war wieder abgedüst. Heute Morgen erscheint ein weiterer junger Mann in Jeans und Cowboy-Stiefeln, der sich an einem Caravan ohne Vorzelt zu schaffen macht... Wir haben keine Lust mehr zu weiteren Spekulationen und packen unseren Hausstand zusammen. Dem Dickbäuchigen im pinkfarbenen T-Shirt entlocke ich mit einem Au revoir à tous, à l’anné prochaine (Tschüs an alle, bis zum nächsten Jahr...) ein gequält freundliches Grinsen. Der Opa winkt lächelnd zum Abschied. Man hört förmlich wie alle aufatmen: endlich wieder unter sich. Wir rollen vom Hof, vorbei an dem Areal mit den Fischteichen, das heute schwarz ist von Männern mit Baskenmützen auf dem Kopf und grünen Gummi¬stiefeln an den Füßen, die alle mit höchster Konzentration eine Angelrute ins Wasser halten.

Kaum befinden wir uns auf der Landstraße, sind wir umgeben von dickem Nebel, der erst nach etlichen Kilometern von der Sonne aufgefressen wird. In Laon, einer Kleinstadt von 30.000 Einwoh¬nern, die sich auf einem Hügel 181 m über N.N. aus der Landschaft der Picardie erhebt, schauen wir uns die Altstadt nebst dazugehöriger Kathedrale an (wie so oft: "eine der schönsten Kathedralen Frankreichs"). Die Türme über dem Hauptportal sind mit ungewöhnlichen Tierdar¬stellungen, u.a. Stieren, einem eher ‚heidnischen’ Symbol, verziert. Auf der Webseite von Laon werden sie als boeufs = Ochsen bezeichnet. In einer Seiten¬kapelle, eingeritzt in den Sandstein einer Säule: ‚Faites pour que Maman guérisse. MERCI.’ (Mach, daß Mama wieder gesund wird. DANKE.) An anderer Stelle mit wasserfestem Edding hingemalt, die Namen dreier, wie ich annehme, keltischer Gottheiten, von denen mir, als gelegentlichem ASTERIX-Leser, nur eine, nämlich TEUTATES, geläufig ist... In einer anderen, durch ein Gitter vom Hauptschiff abgetrennten Seitenkapelle, am Fuß einer gewaltigen Säule ein aus zwei Böcken und einigen darüber gelegten Brettern bestehender Tisch mit ein paar schwarzen Stühlen drumherum, auf denen sich entweder gleich ein paar Bauarbeiter zum Früh¬stück niederlassen - oder wir nehmen das Ganze mit und stellen es ins Frank¬furter Museum für Moderne Kunst... Ein paar Schritte weiter öffnen wir eine nicht abge¬sperrte schwere Eichentür und sehen in eine Rumpelkammer, in der alte Stühle über¬einander gestapelt sind: alle Heiligkeit ist dahin. Fazit: eine nicht unfreundliche Kathedrale mit Bodenhaftung.

Wir gehen noch einige Schritte durch die kühlen mittelalterlichen Gäßchen, kaufen bei einem Metzger 5 Bouletten für 10 FF, bewundern in einem Innenhof eine Karawanserei aus dem 15. Jahrhundert mit einem Schornstein, der noch schiefer ist als der Turm zu Pisa, betrachten nachdenklich ein an einem grünen Hoftor angebrachtes stilisiertes Schild, welches Männern untersagt, hier zu pinkeln... und genießen von der in Serpentinen nach unten führenden Straße den Ausblick in eine weite, dunstige Landschaft, durch die wir dann weiter¬fahren in Richtung Reims, wo wir uns an Kathedrale und Champagner-Keltereien vorbeiquälen müssen, um endlich den Abzweig zur N 931 in Richtung Verdun zu finden.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2002
 
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