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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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[Kerala 2004 - Seite 15/39]

langweilig geworden. Da gab es einen König, eine schöne Königstochter, einen Schwan, einen Garten, heimliche, unerfüllte Liebe usw.; alles was zu einem Märchen gehörte, war vorhanden. Vor allem die letzte, eher tragische Szene, zog sich in die Länge und bekam durch einen der drei Männer, die die Frauenrollen tanzen mußten, eine unfreiwillig komische Note, denn der war mit seiner stämmigen Figur und dem breiten Mondgesicht, in dem es ständig verzweifelt grimmassierte und grinste, der Rolle der schönen Königstochter sichtlich nicht gewachsen. Die Rolle von Charley’s Tante hätte besser zu ihm gepaßt. Nach dreieinhalb Stunden ohne Pause war die Aufführung zu Ende. Und dabei war nur ein Bruchteil der Szenen gezeigt worden, die zu der Geschichte gehörten. Doch das war egal, alle hier Anwesenden, außer uns, wußten, wie die Geschichte weiterging.

Es wurden hauptsächlich Geschichten aus den drei großen indischen Epen Mahabharata, Ramayana und Bhagavata tänzerisch umgesetzt, Geschichten, mit denen jeder Inder von Kindesbeinen an aufwuchs, und die etwa mit unseren Märchen vergleichbar waren. Arundhati Roy schreibt in ihrem Roman ‚Der Gott der kleinen Dinge’, der in Kerala spielt, über die Geschichten des Kathakali, dass der Kathakali vor langer Zeit entdeckt hatte, dass das Geheimnis der großen Geschichten darin liegt, dass sie kein Geheimnis haben. Die großen Geschichten sind die, die man gehört hat und wieder hören will. Die man überall betreten und bequem bewohnen kann. Sie führen einen nicht mit Nervenkitzel und einem unerwarteten Ende hinters Licht. Sie überraschen nicht mit Unvorhergesehenem. Sie sind einem so vertraut wie das Haus, in dem man lebt. Oder wie der Geruch der Haut des Geliebten. Man weiß, wie sie enden, aber man hört zu, als würde man es nicht wissen. So wie man, obwohl man weiß, dass man eines Tages sterben wird, lebt, als wüßte man es nicht. Man weiß, wer in den großen Geschichten leben, wer sterben, wer die Liebe finden und wer sie nicht finden wird. Und doch will man es immer wieder wissen. Darin liegt ihr Geheimnis und ihr Zauber.

Dieser geheimnisvolle Zauber des Wiedererkennens einer alten Geschichte leuchtete auf fast allen Gesichtern um uns herum. Die Halle, in der man in Europa höchstens Kisten gelagert hätte, gehörte zwar zu einem kleineren Tempel, wurde aber für alle Arten Veranstaltungen genutzt und war heute abend gut besucht. Wir saßen auf weißen Gartenstühlen in der zweiten Reihe, wo wir alles sehr gut sehen und fotografieren konnten. Das Alter der Zuschauer, durchweg sehr kultivierte Erscheinungen mit guten Gesichtern, lag zwischen fünf und fünfundsiebzig. Vor mir in der ersten Reihe saß ein ca. achtjähriges Mädchen, das die dreieinhalb Stunden ohne äußere Zeichen von Langeweile oder Unruhe durchstand. Zum Schluß drehten die Trommler, die keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigten, noch einmal voll auf, und mein Brustbein vibrierte in fast schmerzhaftem Stakkato dem Finale entgegen. Bei uns hätte der Abend, schon um die eigene Spannung abzuleiten, mit einem Beifallssturm geendet, doch hier erhob man sich still von seinen Sitzen und ging nach Hause. PM erklärte uns, das sei ein Wesensmerkmal der Hinduerziehung. Die Tänzer und Trommler erwarteten keinen Beifall, sie tanzten und trommelten allein zu Ehren der Götter...

Regen und das Leben im Öffentlichen Raum
Es war gegen elf Uhr abends, und es hatte geregnet. Es waren kaum noch Autos unterwegs. In den düsteren, schlecht beleuchteten, vor Hitze und Nässe dampfenden Straßen sahen wir nur wenige Menschen, und wenn überhaupt, dann waren es Männer. Ein halbnackter Mensch mit umwickeltem Kopf schaufelte mit bloßen Händen Müll auf eine zweirädrige, schon hochbeladene Karre. Da es eine städtisch organisierte Müllabfuhr nicht gab, versuchten die Angehörigen der untersten Kaste, fast immer sehr dunkelhäutige, schmächtige Menschen, durch das Aufsammeln von Müll ein bißchen Geld zu verdienen. Wer sie dafür bezahlte, oder wer die Abnehmer waren, wußte auch PM nicht genau. Hier und da sahen wir unter den überdachten Ladenfronten ein Menschenbündel liegen und schlafen, laut PM Obdachlose aus Tamil Nadu. Von Frankfurt her waren wir Schlimmeres gewöhnt.
PM erzählte, wenn ab elf Uhr abends ein paar Leute auf der Straße zusammenstanden und sich unterhielten, wurden sie von der Polizei aufgefordert auseinanderzugehen. Oberste Bürgerpflicht war es, immer in Bewegung zu bleiben. Eine Kultur des Lebens im öffentlichen Raum, wie man sie aus Ländern mit ähnlichen klimatischen Bedingungen kannte, konnte so nicht entstehen. In Europa ginge man nach einem solchen kulturellen Ereignis, wie wir es gerade erlebt hatten, noch irgendwo hin, um etwas zu trinken und den Abend entspannt ausklingen zu lassen, doch hier gab es kein Straßencafé oder ähnliches, wo man in der lauen Nacht hätte sitzen können. Es gab Räume, und die waren meist sakraler oder halbsakraler Art, wo Kultur auf höchstem Niveau stattfand, doch keine Plätze im öffentlichen Raum, wo man sie in Ruhe hätte verarbeiten können. Männer konnten in eine der ghettoisierten Bars gehen und sich im Akkord zuschütten. Das war alles.

Nebenverdienst
Es regnete immer noch leicht, als wir die Landstraße erreichten. Der Drizzle hatte auf der Fahrbahn einen gefährlichen Schmierfilm gebildet. Doch die Busse, die kaum ein Reifenprofil hatten, bretterten halsbrecherisch wie immer. Zwei von ihnen waren von der Polizei angehalten worden und wurden kontrolliert. PM meinte, wenn zum Monatsende hin das Geld knapp wäre, würden öfter Kontrollen stattfinden. Wenn Geldstrafen bar kassiert wurden, gab es keine Quittung. Und es wäre auch nicht ratsam eine zu verlangen... In Nalukkettu trafen wir Franko, der auf dem Weg von Kochi auf der regennassen Straße einen Unfall miterlebt hatte. Ein Kleinauto war unter einen Bus gerutscht und völlig zerstört worden. Wie durch ein Wunder war niemand schwer verletzt. Erst nachdem man die Fahrerin aus dem Auto befreit und sie gesehen hatte, wie ihr Auto aussah, war sie in Ohnmacht gefallen...

Dusche im Freien
Nach dem Lunch in Trichur, wo gegenüber dem Restaurant, schlafend oder tot, ein in graue Lumpen gehüllter Mensch gelegen hatte, fuhren wir in einem Außenbezirk herum, wo ein Villenviertel für die Neureichen im Entstehen war. Zwischen teils noch brachliegenden Grundstücken und halbfertigen Häusern, deren Mauern schon vom Monsun geschwärzt waren, standen hie und da noch niedrige Palmblatthütten, vor denen sich am Straßenrand das pralle häusliche Leben abspielte. Als wir langsam um eine Ecke bogen, stand ein von Kopf bis Fuß eingeseifter etwa fünfjähriger Junge vorm Auto und lachte uns fröhlich an, während die Mutter ihn etwas verlegen, doch auch lächelnd zurück zum Straßenrand zog, wo sie ihn vor dem Eingang der Hütte, die dort im Schatten einiger Palmen stand, mit einem Eimer voll Wasser abduschte. Wir nahmen’s als Lokalkolorit und winkten und lachten zurück, obwohl uns nicht unbedingt danach zumute war.

Sari-Kauf
In der Firma ‚Cocoon’, die laut AM hochwertige Saris verkaufte, waren wir die einzigen Kunden und wurden erwartungsvoll von knapp zehn weiblichen Angestellten empfangen, die vor mit bunten Stoffen gefüllten Regalen standen und auf unseren leisesten Wunsch hin bereit waren, diese leerzuräumen, um jene vor uns ausbreiten zu können. Kronleuchter an der mit Stuckornamenten verzierten Decke verbreiteten ein verkaufsförderndes Licht. Die jungen Verkäuferinnen, die natürlich die schönsten bunten Saris (aus Baumwolle!) trugen und mehr oder weniger mit Gold behangen waren, bewegten sich mit großer Anmut und hatten fast alle unregelmäßig im Mund herumstehende Zähne, die dringend einer Zahnspange bedurft hätten, doch mit dem, was sie hier verdienten, konnten sie sich diesen Luxus bestimmt nicht leisten. Wir erstanden einen Seidensari, bestehend aus einer breiten, langen Stoffbahn, dem Material für eine Bluse sowie einem farblich dazu passenden Unterrock aus Baumwolle (das Ganze für dreiunddreißig Euro) und stellten, als wir schon im Auto saßen, fest, dass auf der Computerrechnung für die Bluse ‚Synthetic’ stand. PM ging noch mal rein, und man sagte ihm, das sei nur ein Eingabefehler, man könne aber eine neue Rechnung schreiben. Worauf wir verzichteten, denn das hätte nochmal einiges an Schreiberei und Stempelei bedeutet.

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