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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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[Kerala 2004 - Seite 18/39]

Allein mit dem Bus nach Trichur
PM fuhr uns zur Bushaltestelle in Cherpu. Heute waren elf Arbeiter auf dem Grundstück beschäftigt. Die wollte er nicht unbeaufsichtigt lassen, denn AM war zu seinem PC-Kurs nach Trichur gefahren. Unter anderem war ein kleiner Trupp Bambus-Arbeiter angekommen. Sie sollten die etwa acht bis zehn Meter hohe Bambushecke roden, an deren Stelle eine neue Mauer zum Nachbargrundstück gebaut würde. Das war einer der Kompromisse, auf die sich die beiden streitenden Nachbarn geeinigt hatten. Allerdings profitierte davon im Moment allein der ‚böse’ Nachbar, denn der bekam die gefällten Stämme, die er gut verkaufen konnte, während PM die Arbeiter bezahlen mußte. Es waren sehnige, schmalgliedrige Gestalten mit sehr dunkler Haut, denn diese Arbeit wurde fast ausschließlich von Tribals gemacht, also Ureinwohnern aus dem Dschungel, die daran gewöhnt waren, barfuß oder in Gummi-Badelatschen in dem gefährlichen Bambusgestrüpp mit fingerlangen Dornen, scharf wie Dolche, herumzuturnen. Jeder verdiente hundertfünfundsiebzig Rupien am Tag, was in der Relation von einheimischen Einkommen und Preisen einem europäischen Tagesverdienst von fünfundachtzig Euro entsprach.

Während wir an der Bushaltestelle in der glühenden Sonne standen, saß PM auf der anderen Straßenseite im Auto und wartete, bis wir in den richtigen Bus nach Trichur eingestiegen waren. In gewissen Dingen des alltäglichen Lebens waren wir hier in der ersten Woche auf den Entwicklungsstand zehnjähriger Kinder zurückgeworfen worden, und PM als leidenschaftlichem Pädagogen machte es jetzt Spaß zu beobachten, wie wir uns allmählich von ihm abnabelten und versuchten, unsere eigenen Wege zu gehen. Wie ein Vater mußte er sich vorkommen, der seine Kinder zum Bus brachte, damit sie zum erstenmal allein zur Schule fuhren.

Einen Bus hatten wir fahren lassen, denn er war uns zu voll erschienen, den zweiten, der nach knapp vier Minuten kam, nahmen wir, obwohl er genau so voll war. Das war etwas, was wir ganz schnell lernen würden: es gab keinen Bus, der nicht voll war. Kaum hatten wir etwas gefunden, an das wir uns festklammern konnten, setzte sich das Gefährt mit dröhnendem Motor und gellenden Hupsignalen in Bewegung, und da es ein Bus mit Limited Stop, also ein Schnellbus war, der nicht an jeder Milchkanne hielt, machte er seinem Namen alle Ehre und führte gewagte Überhol-, Brems- und andere Manöver durch bei einer Geschwindigkeit, dass es uns geraten schien, nicht mehr auf die Straße zu schauen und zu hoffen, dass viele der einheimischen Fahrgäste, die scheinbar gelangweilt und schicksalsergeben aus den scheibenlosen Fenstern starrten, für uns mitbeteten.

Das vordere Drittel des Busses war für Ladies und Kinder reserviert. Da dies die gefährdetsten Plätze waren und bei den häufigen Unfällen daher hauptsächlich Frauen und Kinder zu den Opfern zählten, hatte man vor einiger Zeit versucht, die Sitzordnung zu ändern, doch daran hatte man sich gerade mal vier Wochen gehalten, danach war alles wieder wie vorher gewesen. Ich hatte immer eine Heidenangst, wenn ich mich im relativ sicheren Männerbereich irgendwo an eine Stange krallte, während RR im Bereich der potentiellen Opfer auf einen Sitzplatz lauerte. Hätte man bei dem Gerumpel tanzen können, wir hätten uns wie in einer fahrenden Disco gefühlt, denn die indische Popmusik, die aus den Lautsprechern dröhnte, übertraf an Lautstärke noch die Geschwindigkeit, mit der der Fahrer todesmutige Fußgänger von den Zebrastreifen fegte. Ich hatte dem Schaffner, der behende wie ein Affe im Wagen herumturnte, zehn Rupien für zwei Tickets à vierfünfzig gegeben, ich hatte weder eine Rupie Wechselgeld noch Tickets bekommen. An jeder der beiden Türen des Busses gab es einen jungen Mann, der durch Ziehen an einer Schnur dem Fahrer ein Klingelzeichen gab, wenn er weiterfahren konnte. Das kannte ich noch aus den Straßenbahnen in Deutschland kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Ein Bus gab also mindestens vier Menschen Arbeit und Brot. Die einfachste Methode, Arbeitslosigkeit vorzubeugen bzw. abzubauen: Menschen statt Automaten arbeiten lassen.
Kurta Pyjama
Das Empfangskommitee im Vestibül des Kalyan Silk in der Palace Road erkannte uns gleich wieder und lächelte uns fröhlich entgegen. Heute fuhren wir zuerst in den fünften Stock in die Herrenabteilung. Ich hatte mir von PM eine weiße Baumwollhose, die in der Hüfte gebunden wurde, ausgeliehen, die ich als Muster vorlegte, um dem Verkäufer ohne Sprachprobleme klarzumachen, was ich wollte. Es kümmerten sich mindestens vier junge Männer um mich, legten mir Stoffe vor, die ich nicht wollte, aus denen ich mir aber eine Hose hätte machen lassen können. Schließlich kramte einer aus der untersten Schublade des Tresens ein etwas verstaubtes, in Klarsichthülle steckendes Paket hervor, in dem sich das, was ich suchte, befand. Es schien ein Ladenhüter zu sein, denn in Kerala hatte der nordindische Kurta Pyjama sich gegen den Mundu nicht durchsetzen können.

Man lotste mich in die Umkleidekabine, die eng war und heiß und nach Männerschweiß roch. Ich versuchte, das rechte Bein in die weiße, bretthart gestärkte Röhre einzuführen, deren Länge kein Ende zu nehmen schien und nach unten hin immer enger wurde. Als der Fuß die Röhrenfahrt geschafft hatte und unten rausguckte, stellte ich fest, dass die Hose mindestens fünfzehn Zentimeter zu lang und im Bund dreißig Zentimeter zu weit war. Man wollte mir weismachen, dass es der letzte Chic war, die Hosenbeine ziehharmonikamäßig auf die Füße fallen zu lassen, was mich an Fotos indischer Staatsmänner der Vergangenheit erinnerte, die so ähnlich gekleidet herumgelaufen waren. Doch ich war kein indischer Staatsmann und wollte nur aus dieser Textilie, die inzwischen an meinem schweißnassen Bein festzukleben drohte, wieder raus, was schließlich gelang, indem der Verkäufer unten zog und ich oben schob. Naßgeschwitzt und erschöpft wankte ich aus der Kabine mit dem festen Vorsatz, meinem europäischen Outfit treu zu bleiben. Die Lust, mich als Einheimischer zu verkleiden - going native - war mir vergangen.

RR: Ich lauere vor der Kabine mit der Kamera und banne einen sichtlich gealterten, zerzausten und völlig aufgeweichten KB auf den Chip. Auf der Treppe zum zweiten Stock in die Damenabteilung erholt er sich und findet sofort sein Gleichgewicht wieder, als wir mit strahlendem Lächeln von den reizenden Mädchen begrüßt werden. Ich möchte noch eine Kombination kaufen, finde auch eine, deren Hose allerdings zu lang ist. Alles kein Problem, es dauert nur fünfzehn Minuten, dann haben die unsichtbaren Schneider sie gekürzt. In dieser Zeit probiere ich schnell noch drei lockere Baumwoll-Tops an, mit kleinen Ärmeln versteht sich, die ich ebenfalls kaufe. Die Batterien der Kamera spielen dieses Mal beim Gruppenfoto mit. Erschöpft schreiten wir ins Erdgeschoss, wo sich die gestrige Verkäuferin freut, uns wiederzusehen. Wir lassen uns auf die bequemen Stühle in der Eingangshalle sinken und haben noch eine Verschnaufpause von fünf Minuten, bis alle Belege gestempelt sind und die Ware verpackt ist.

Is Albert Camus German?
KB: Als wir auf die Straße traten, haute uns die Sonne mit unzähligen goldenen Hämmerchen auf die Schädeldecke. Wir nahmen eine Rikscha zum City Center, wo wir in der kühlen, sauberen Halle auf PM warteten, mit dem wir hier verabredet waren. Neben uns auf der Bank unter der verglasten Kuppel saß ein junger Mann, der nach einer Minute schon nicht mehr an sich halten konnte und die beiden Standardfragen absonderte Where from, What’s your name, um dann aufgeregt zu seinem etwas abseits stehenden Freund zu rennen, der sich zu uns gesellte und zu unserer Überraschung drei weitere Fragen Do you know Günther Grass, Do you know Erich Fromm, Is Albert Camus German? anbrachte, auf die ich nicht vorbereitet war, aber eine Antwort geben konnte.

Hier hatten wir es offensichtlich mit Angehörigen der gebildeten Mittelschicht zu tun. Andere Leute konnten sich die Preise in diesem europäisch gestylten Einkaufszentrum auch nicht leisten. In Europa würden wir ähnliche Orte nach Möglichkeit meiden, doch hier war es eine Zufluchtsstätte, in deren kühle Sauberkeit

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