deutsche version
manasvi.com/manasvi.de
Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
©
Webmail
Rechtshinweis
Feedback
 

[Kerala 2004 - Seite 31/39]

genießen wir in kleinen Schlucken, ab und zu wedeln wir matt die Fliegen vom Glas und schauen auf die staubige Straße. Offenbar haben wir nach gut drei Wochen in Kerala doch ein bisschen von der Lebenseinstellung der Einheimischen verinnerlicht. Auf jeden Fall merken wir, wie der Zucker in dem starken Tee uns wieder neue Energie liefert. Und bevor einige Männer, die neugierig immer näher gekommen sind, uns wieder Whatsyourname fragen können, wandern wir weiter. Eine gütige Gottheit lässt uns nach kurzer Zeit eine Bushaltestelle finden und in den richtigen Bus nach Irinjalakuda einsteigen.

Wasser, Coca Cola und Heilige Kühe
KB: Obwohl wir erst einmal hier gewesen waren, fühlten wir uns im Indian Coffee House in Irinjalakuda schon als Stammgäste. Der Kellner mit der hohen, turbanähnlichen Kopfbedeckung erkannte uns sofort wieder und lächelte uns freundlich an. Wir tranken jeder einen Liter Wasser. Zu essen gab es für RR Beef Omelette, für mich Chicken Masala. Wir waren happy. Auch der Coffee schmeckte wunderbar. Um das Ganze abzurunden, bestellte RR in fast perfektem Malayalam Param Puri und bekam von unserem Lieblingskellner, der von einer rührend unbeholfenen Freundlichkeit war und uns heute mit einem breiten Grinsen des Wiedererkennens begrüßt hatte, mit strahlendem Lächeln eine doppelte Portion serviert.

In einer der zwei Seitenstraßen sahen wir eine überdimensionale Coca Cola-Werbung, die mit den Malayalam-Schriftzeichen äußerst exotisch wirkte. In der schummrigen Tiefe eines schmuddeligen Hausflurs, der speckig glänzend ockerfarben gestrichen war, die lebensgroße Gipsfigur einer Dame mit ausgeprägten Kurven. Darüber ein Schild, Weiß auf Rot, Aristocrat Brandy, daneben, Weiß auf Grün, JOLLY BAR. Wir waren offensichtlich im Rotlichtviertel Irinjalakudas.

Zurück auf der Hauptstraße schauten wir noch die Fahrräder an, die vor einem Laden ausgestellt waren und fragten nach dem Preis. So ein stabiles, offensichtlich robust gebautes Gefährt kostete zweitausend Rupien. Das waren für uns knapp fünfunddreißig Euro. Für einen Inder waren es, was für uns tausend Euro in FFM gewesen wären. Am späten Nachmittag fuhren wir mit dem Bus zurück nach Cherpu, wo uns auf einem Feldweg kurz vor Nalukkettu eine Herde weißer indischer Zebu-Rinder entgegenkam, deren lange, manchmal fast ringförmig geschwungene Hörner blau und rot bemalt waren. Eine Begegnung der archaischen Art.

Ich bin - also bin ich
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit begann es heftig zu regnen. Wir saßen auf der hinteren Terrasse, um die eintönig der Nordostmonsun rauschte. Es war, als schaukelten wir in einer Hängematte aus Regen. Ich notierte ins Reisetagebuch: Das touristische Kapital dieses Landes sind nicht seine Sehenswürdigkeiten, deren es gar nicht viele gibt, es sind die Menschen, die hier leben. Du willst aufgeben vor Hitze, Dreck, Lärm und Gestank, da trifft dich aus einem milchkaffeebraunen, glänzenden Gesicht, mit riesigen schwarzen Augen darin, ein strahlendes Lächeln mitten ins Herz. Du setzt einen Fuß vor den anderen. Nirgendwo ein Ort, wo du dich ausruhen kannst, zumindest kennst du ihn nicht. Dein Kopf wird immer leerer. Die intellektuellen Krücken europäischer Denkweise helfen nicht weiter. Du kommst irgendwo an, oder du kommst nicht an. Du bist dir selbst ein Fremder. Du bist einfach. Das abendländische Credo Ich denke - also bin ich heißt auf Indisch: Ich bin - also bin ich. Eine existentielle Erfahrung, die neu ist. Sie ist nicht schön und erhaben und subtil wie der mediterrane Augenblick, der vom beredten Schweigen der Ewigkeit lebt, sondern voller Lärm und diesseitiger Sensationen, deren Widersprüche sich auflösen in einer alltäglichen Geste voll kindlicher Anmut und Würde...


Selbstmorde und Pilgerreisen
Im Indian Express las ich morgens von einem Selbstmord in der näheren Umgebung. Kerala ist das Land mit der höchsten Selbstmordrate in Indien. Fast jeden Tag stehen ein oder zwei Selbstmorde in der Zeitung. Meistens sind es Bankschulden, die die Menschen zum Strick greifen lassen.

Ashwin erzählte beim Frühstück, dass er in den nächsten
Tagen auf Pilgerreise geht. Er hatte ungeschnittene Fingernägel, und ein schütterer Jünglingsflaum wuchs ihm auf der Oberlippe. Rasieren und Fingernägelschneiden waren während der Vorbereitungsphase der Pilgerreise verboten. Sex war ebenfalls tabu. Ob er es geschafft hatte, keine sündigen Gedanken zu haben, darüber schwieg er. Diese relativ harmlosen Gebote galten nur für die Brahmanen, die unteren Kasten hatten weitaus mehr Tabus zu beachten. Das Ziel der Reise war der Tempel Sabarimala, dreihundert Kilometer weiter südlich in den Ghats gelegen. Man war dorthin eine Nacht mit dem Bus unterwegs. Die letzten sechs Kilometer gingen ständig bergauf und mußten zu Fuß zurückgelegt werden. Promis ließen sich mit dem Hubschrauber oben absetzen, um vor dem Hintergrund des Tempels ihre Fresse in die Fernsehkameras zu halten.

Beim Schneider
RR: Ich hatte ein großes indisches Tuch, welches als Bettüberwurf gedacht war, gekauft und später festgestellt, dass zwei Seiten ungesäumt waren. Nun fiel mir der Schneider ein, den wir auf der Veranda einer kleinen Steinhütte an der Bushaltestelle in Cherpu schon öfter hatten sitzen und arbeiten sehen. Wir traben zur Haltestelle und steuern auf den nur mit einem Mundu bekleideten Schneider zu. Höflich ziehe ich meine Schuhe aus, bevor ich die paar Stufen zu ihm hinauf steige. Er spricht kein Englisch, und so zeige ich ihm, was er machen soll. Er strahlt und stellt mir einen alten Plastikstuhl hin, auf dem ich Platz nehme. Er arbeitet mit einer Nähmaschine, die Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurde und sehr an meine geerbte alte Maschine erinnert. Als findiger Inder hat er die Maschine jedoch mit einem kleinen Elektromotor aufgerüstet, der das obere Schwungrad vermittels eines schmalen Transmissionsriemens antreibt. Nach fünf Minuten ist er fertig. Er möchte fünf Rupien von mir haben (ca. sieben Cent). Mittlerweile hat sich noch ein anderer Mann auf der Veranda niedergelassen, der sich mit dem Schneider unterhält und alles interessiert beobachtet. Als ich gehen will, fragt mich der Schneider auf Malayalam, wo ich wohne, ich sage Nalukkettu, und er strahlt übers ganze Gesicht.

Zehn mal dreiundzwanzig
RR: Wir möchten in dem winzigen Lädchen zehn Päckchen Zigaretten kaufen, und ein anderer Kunde übersetzt dies wortreich dem Verkäufer, dessen Falten um den Mund herum vom Betelsaft dunkelrot verfärbt sind. Ein Päckchen kostet dreiundzwanzig Rupien, und es dauert zwei Minuten, bis der Verkäufer schriftlich auf dem Rand einer Zeitung den Gesamtpreis von zehn Päckchen ausgerechnet hat. Ich schaue fasziniert zu und werde von beiden Männern zweimal gefragt, ob zweihundertdreißig Rupien für mich auch wirklich ok seien. Als ich mit einem Fünfhundertrupienschein bezahle, wird dieser sehr misstrauisch vom Verkäufer beäugt. Wahrscheinlich hat er noch nie einen in der Hand gehabt...

Ein Tribal im Bus
Wegen der Hitze, es waren ungefähr vierunddreißig Grad im Schatten, waren die Rollos auf der Sonnenseite des Busses heute heruntergezogen. Zwei Stationen vor Irinjalakuda stieg ein halbnackter Mensch unbestimmbaren Alters zu. Es war ein Tribal. Seine Haut war sehr dunkel. Er war ungefähr einen Meter siebzig groß und wog vielleicht fünfzig Kilo. Arme und Beine waren muskulös und sehnig, doch sehr dünn. Der Kopf war ziemlich klein und das Gesicht mit der flachen Nase nur wenig ausgeprägt. Um die Lenden trug er ein handtuchbreites, ziemlich dreckiges Tuch, um den Kopf war ein Fetzen Stoff von undefinierbarer Farbe gewickelt. Er schien geistesabwesend zu sein, seine Augen sahen nach innen. Entweder war er betrunken oder stand unter Drogen. Während er sich im Mittelgang an einen Haltegriff klammerte, rümpfte die hinter ihm sitzende, im seidenen Sari steckende und mit Goldklunkern behangene Inderin verächtlich und demonstrativ die Nase, wenn ihr sein schlanker, biegsamer Körper, durch die Fahrbewegungen des Busses bedingt, zu nahe kam. Vom Schaffner hatte er einen gebrauchten Fahrschein zugesteckt bekommen, den er gleichmütig unter seinen Kopfputz schob. Als er in Irinjalakuda mit uns ausstieg, sahen wir ihm nach, wie er sich im Menschengewühl des Busbahnhofs mit unsicher schwankenden Bewegungen entfernte.

31

Copyright © 2002-2006 Prem Manasvi. Alle Rechte vorbehalten.
WebDesign & WebHosting: Nalukkettu Consulting
manasvi.de