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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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[Kerala 2004 - Seite 33/39]

Fliesen um ein Tuch herum, auf dem fast alles stand, was zu einem europäischen Frühstück gehörte. Brötchen, Croissants, Schwarzbrot, Butter, Marmelade und Honig, sogar ein Stückchen Käse war da. Ashvin hätte eigentlich wegen der bevorstehenden Pilgerreise einen schwarzen Mundu tragen müssen, doch als Angehöriger der privilegierten Brahmanenkaste schien er es sich leisten zu können, die Götter ein bißchen zu betrügen, indem er eine Jogginghose trug, um sich damit der sozialen Kontrolle zu entziehen. Er hatte vor kurzem die High School mit einem sehr guten Zeugnis verlassen, studierte jetzt im ersten Semester Physik und probierte heute den ersten Käse seines Lebens. Einen fast geschmacklosen, in Plastik eingeschweißten englischen Cheddar, den wir zu einem für normal verdienende Inder unvorstellbaren Preis im City Center Supermarkt gekauft hatten. Als wir von den dreihundertsechzig Käsesorten allein in Frankreich erzählten, bekam Ashvin ganz große, runde Augen. Unsere Frage, warum es im Land der heiligen Kühe nicht eine florierende Käseproduktion gab, konnte uns keiner der Anwesenden beantworten.

Der Weg ist das Ziel: Unterwegs in die Berge
RR: Kurz hinter Trichur gelangen wir auf eine zum Highway ausgebaute Landstraße, die in nördöstlicher Richtung in die Berge führt. Nach wenigen Meilen sehen wir auf einem Hügel am rechten Straßenrand die runde, mit Keralaziegeln gedeckte und von posaunenden, dickbackigen Engeln geschmückte Kuppel der St. Agnes Cathedral in den wolkenlosen Himmel ragen. Menschenmassen strömen uns entgegen, offenbar ist gerade eine Messe zu Ende. Wir umrunden die Kirche. Wie überall erregen wir auch hier Aufmerksamkeit. Wer sich traut, Whatsyourname zu fragen, wird sogleich von anderen umringt und fühlt sich wie ein strahlender Held. Wir treten in das Innere der Kirche, in der gerade eine Taufe stattfindet, und wo man versucht ist, an den Heiligenfiguren oder auch an den Wänden zu lecken, so süßlich bonbonfarben sind sie angestrichen. In einer Ecke steht eine Christusfigur, die mit drei Spießen durchbohrt ist. PM erzählt, dass an hohen Feiertagen eine Prozession mit der Figur von Tür zu Tür zieht. Für Geld darf man dann einen Spieß herausziehen - den anschließend ein Kirchendiener wieder hineinsteckt...

Als wir uns auf den Rückweg zum Auto machen, hören wir schon von weitem Gehupe und wütende Stimmen. In der engen Straße, von der man nicht hatte annehmen können, daß dort Busse und Lastwagen verkehren, blockiert PM’s Auto sämtlichen Verkehr. Ein wütender Busfahrer und ein noch wütenderer LKW-Fahrer schreien auf uns ein. Wir entschuldigen uns, klettern in das Hindernis und fahren weiter. Nach ein paar Kilometern müssen wir an einer Bahnschranke halten. Zwei Fahrzeuge hinter uns hält der Bus. Der Fahrer sowie der Schaffner steigen aus, kommen zum Auto und - reden freundlich lachend auf uns ein.

KB: Kurz vor Cheruthuruthy hielten wir am Straßenrand. Ein Steintreppchen führte zu einer unterhalb des Straßenniveaus gelegenen Bretterbude, wo wir einen Chai tranken und uns jeder eine große Banane servieren ließen. Dem Meal im Napf aus Edelstahl, das ein Mann am Nebentisch verzehrte, trauten wir nicht so recht, obwohl wir ziemlichen Hunger hatten. Nachdem wir uns einigermaßen erholt hatten, traten wir wieder in die gleißende Helligkeit der Landstraße, gingen auf der anderen Straßenseite ein paar Schritte an einer Mauer entlang bis wir zu einem großen Tor gelangten, durch das wir das Gelände des Kerala Kalamandalam betraten. Es war dies die renommierte, auch international bekannte Schule für Kathakali und andere keralische Formen darstellender Kunst, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts von dem keralischen Dichter Valathol gegründet worden war.

Wir durchquerten das schattenlose Gelände, auf dem, in kasernenmäßiger Anordnung, flache Plattenbauten standen, in denen Studenten wohnten und die Lehrveranstaltungen stattfanden. Es waren nur wenige Menschen zu sehen heute, da niemand freiwillig den Schatten der Häuser verließ und in die dornige Hitze hinaustrat, die unsere Haut mit einem klebrigen Schleim überzogen hatte.

Am Rande des Geländes bewunderten wir das aus Holz erbaute Theater, das Kuthambalam, das man auch in den Vorhöfen großer keralischer Tempel fand. Es hatte ein gleich einer Meereswoge aufsteigendes Dach aus roten Keralaziegeln, und die Giebel und Firste waren mit filigranen Schnitzereien verziert. Durch ein offenes
Geflecht geschweifter Holzstäbe konnte man in den
Innenraum sehen. Trotz des Halbdunkels sahen wir die riesige, von mehreren mächtigen Säulen begrenzte Bühne. Hier im Schein der Öllampen eine Kathakaliaufführung zu erleben, konnten wir uns als sehr reizvoll vorstellen. Im Unterschied zu den Tempel-Kuthambalams durften in diesem Gebäude auch Nicht-Hindus den Kathakaliaufführungen beiwohnen. Es gab hier inzwischen Studenten aus aller Welt, die an die verschiedensten Götter glaubten und gemeinsam das Erbe keralischer Kultur studierten und lebendig erhielten. Der Widerspruch war, dass westliche Theaterkünstler, die hier studiert hatten und auf den berühmtesten Bühnen der Welt auftraten, weder keralische Tempel betreten geschweige denn in ihren Kuttambalams auftreten durften...

Die Gegend, durch die wir jetzt kamen, war dünner besiedelt. Die immer abenteuerlicher und enger werdende Straße führte durch ausgedehnte Gummibaumplantagen. Auf einer langen Brücke überquerten wir den Bharata, den längsten Fluß Keralas, der den Hindus heilig war, aber seit einigen Jahren immer weniger Wasser führte und daher zum größten Teil nur noch aus breiten Sandbänken bestand, zwischen denen traurige Rinnsale flossen, was zwar eine interessante neue Landschaft geschaffen hatte, die Anwohner jedoch nicht über die Wasserknappheit hinwegtröstete.

Ich hatte Hunger und machte den Vorschlag, in der nächsten Ortschaft, durch die wir kamen und die aus einer staubigen, glutheißen Hauptstraße und ein paar lehmtrockenen Gassen bestand, nach einem Indian Coffee House zu suchen, denn ich hatte die Hoffnung auf ein nicht-vegetarisches Mittagessen ohne üppigen Zusatz von Bestandteilen der Kokosnuß noch nicht aufgegeben. Von einem Taxifahrer, den PM fragte, erfuhren wir, dass es ein I C H hier nicht gab. Er empfahl uns ein anderes Restaurant in einer Seitenstraße, das sich, nachdem wir es nach vielem Hin und Her endlich gefunden hatten, als ein Luxushotel in einer alten denkmalgeschützten Villa entpuppte. Ehe der auch hier als Operettengeneral verkleidete Parkplatzwächter die Autotüren aufreißen konnte, um uns willkommen zu heißen, wendete PM mit quietschenden Reifen und fuhr zurück zur Hauptstraße. Der nächste größere Ort war nicht weit. Wir stiegen aus und machten uns zu Fuß auf die Suche nach einer annehmbaren Futterstelle.

Mit vor Hitze und Durst ausgeleierten Eingeweiden standen wir einen Augenblick am Rande der Hauptstraße, auf der ein Großstadtverkehr dröhnte und uns heißen Staub um die Ohren pustete. Wo waren die heiligen Kühe, die angeblich, indem sie Papierabfall und selbst Plastiktüten fraßen, die Straßen einigermaßen sauber hielten? Hier hätten sie zu tun gehabt. Die Menschenmassen bewegten sich mit fatalistischer Gelassenheit durch diese Vorhölle. PM steuerte eine staatliche Bakery auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. In dem schmuddeligen Verkaufsraum lagen ein paar vergammelte Kuchenstücke hinter Glas. Ansonsten gab es Kaffee oder Tee. Wir gingen eine Treppe hoch in den ersten Stock und bestellten Tee. (RR: Ich erkundige mich nach der Toilette und werde nach oben bis aufs Dach geführt. Dort gibt es einen Verschlag mit einer Toilette, die erstaunlich sauber ist. Allerdings muss ich beim Anblick der Räume, an denen ich vorbei gegangen bin, tief durchatmen. Alles ist völlig verdreckt, auch altes Essen steht herum, teilweise auf dem Fußboden. Als KB ebenfalls zur Toilette hochtrabt, kommt er völlig erledigt wieder zurück.)

KB: Von einer Lebensmittelaufsicht, wenn es sie denn hier gäbe, hätte dieser Laden wegen Seuchengefahr sofort geschlossen werden müssen. Die zwei Treppen, die ich zum Klo hochsteigen musste, waren mit Gerümpel vollgestellt, das in einem Lebensmittelbetrieb nur bedingt etwas zu suchen hatte. Die Räume, in die ich dabei auf jedem Treppenabsatz ungewollt Einblick hatte, glichen großen Mikrowellen, in denen üppige, betagte Essensreste in Töpfen und Schüsseln von Gastronomieformat von der Sonne, die durch die weitgeöffneten Fenster knallte, aufgewärmt wurden. Die scheuen, handtellergroßen Kakerlaken konnte man nur ahnen, die Ratten konnte man hören, und die Fliegenschwärme, die sich ungehindert in den Räumen bewegten, konnte man sehen. Nur die Angestellten, die überall in Zeitlupe herumlungerten und mir misstrauisch nachglotzten, schienen von all dem nichts zu bemerken. Ihre Lethargie war berechtigt. Diesem Chaos war nur noch mit einem Kanister Benzin und einem Streichholz beizukommen.

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