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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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[Kerala 2004 - Seite 35/39]

Beim Toddymaker
Laut Indian Express ist der heutige Streik illegal. Öffentliche Verkehrsmittel hatten angekündigt, dass sie fahren wollten, und es war ihnen Polizeischutz zugesagt worden. Doch Genaueres wußte niemand. Wir sandten heimliche Stoßgebete an alle uns bekannten indischen Gottheiten einschließlich der Jungfrau Maria von der Konkurrenz, dass am Sonntag, wenn wir zurückfliegen wollten, kein Streik sein möge. PM meinte, in diesem Fall gäbe es nur die Möglichkeit, einen Tag früher nach Kochi zu fahren und sich dort in einem Hotel in der Nähe des Flughafens einzumieten. Der Indian Express berichtete außerdem, dass es gestern auf den Straßen des Bezirks Trichur acht Verkehrstote gegeben hatte...

Nach dem Frühstück machte AM den Vorschlag, den Toddymaker zu besuchen. Da konnten wir das Auto benutzen, ohne irgendwo großes öffentliches Ärgernis zu erregen. Als wir endlich die labyrinthisch ineinander übergehenden, roten Lehmpfade hinter uns gelassen hatten, die die Großfamilienhäuser im Dschungelgrün des ausgedehnten Vororts spinnennetzartig miteinander verbanden, dehnte sich vor uns eine flache Landschaft mit einem weiten Himmel darüber. Wir fuhren über einen Damm, der gerade so breit war, dass der Landrover draufpaßte. Alles, was uns entgegenkam, Fußgänger, Radfahrer, heilige Kühe oder Ziegen musste halb auf die Böschung ausweichen. Rechts von uns ein Kanal, der die Wasserzufuhr regulierte, dann bis zum Horizont, der wie üblich aus einem Palmenhain bestand, Paddies, parzellierte Reisfelder, teils lehmbraun, teils schwarz, teils schon mit zarten grünen Trieben. Auf den meisten Feldern wurde gearbeitet, Frauen mit bunten Kopftüchern standen im knöcheltiefen Wasser und setzten Schößlinge, Männer hackten Furchen mit vorzeitlichen Geräten, auf einem Feld arbeitete sich eine kleine Maschine durch den schwarzen Schlick, in dem sie zu versinken drohte. Drei Männer waren gerade damit beschäftigt, sie wieder flott zu machen.

Wenn wir AM richtig verstanden hatten, dann gehörte das Feld dem, der es bearbeitete. Zur Pflanz- und Erntezeit wurden zusätzlich Wanderarbeiter eingestellt. Ansonsten war die Arbeit genossenschaftlich organisiert. Die Ernte wurde zu Einheitspreisen von der Genossenschaft angekauft und weiter vermarktet. Das war kein Wirtschaften, bei dem wenige reich wurden und viele hungerten, sondern bei dem niemand reich wurde und keiner hungern mußte.

Auf dem Kanal schwammen Lotosblüten. Nur mit Lendenschurz bekleidet und einem Tuch um den Kopf, standen junge Männer am Ufer oder bis zu den Knien im Wasser und fischten. Teils mit reusenartigen Netzen, teils mit einer Art umgestülpten Holzkorb. Manche versuchten es mit Pfeilen, die sie wie ihre Vorfahren vor zehntausenden von Jahren aus einem Blasrohr abschossen. Über den Köpfen der Fischer kreischten kleine weiße Möven. Manchmal sah man auf einem Stück festen Grund am Rande eines Reisfelds eine Hütte aus Steinen oder Palmblättern, in der wahrscheinlich Saisonarbeiter untergebracht waren. Auffallend war, dass hier nirgendwo Müll herumlag.

Der Toddymaker wohnte mit seiner Familie in einem Steinhaus mit einem Vorbau aus Palmblättern. Es war ein ausgedehnter, lichter Palmenwald, in dem außer diesem noch einige andere Häuser standen. Auf der anderen Seite des Kanals, dessen Ufer hier mit Steinen befestigt war, standen Einheimische, die gebannt zu uns herüber starrten. Wer zur Familie des Toddymakers gehörte, war schwer auszumachen, denn überall standen Männer, Frauen und Kinder herum, die uns staunend betrachteten. Die Menschen waren sehr schlank und zartgliedrig, die Frauen von herber Schönheit. Auf vielen Gesichtern, wenn sie nicht gerade zu einem strahlenden Lächeln explodierten, lag ein Hauch naiver Melancholie, wie man ihn im Westen nur noch auf den Gesichtern von Kindern sieht.

Der Toddymaker war ein Mann in den Dreißigern. Bekleidet war er mit einem blauen Hemd und schwarzem (!) Mundu. Er war barfuß. Nachdem wir unsere Sandalen ausgezogen hatten, lud er uns mit einer Handbewegung ein, in den schattigen Vorbau einzutreten. Dort stand auf einem gemauerten Podest ein Bett aus massivem Holz, das von aufgewickelten Moskitonetzen umgeben war. Haus und Hof waren von wohltuender Sauberkeit, was die Hitze erträglich machte. Für RR gab es einen Stuhl. Wir übrigen nahmen auf dem Podest Platz. Eine Flasche Toddy wurde vor uns hingestellt und zwei Gläser (mehr Gläser gab es nicht im Haus). Auch wenn der frische Palmwein noch nicht so viel Alkohol enthielt, war es doch ziemlich anstrengend, am frühen Vormittag zu Viert eine Flasche Toddy leer zu machen. Und leer gemacht werden mußte sie, das gehörte zum guten Ton. Der Toddymaker begann, von seiner Arbeit zu erzählen. Er verdiente zwischen drei- und vierhundert Rupien am Tag. Auch hier gab es eine Kooperative, die den Toddy aufkaufte. Die Palmen gehörten, wie die Reisfelder, dem, der sie bearbeitete.
RR: Um auf die Kokosnusspalmen klettern zu können, bindet man den Stämmen halbierte Nüsse um, die als Leiter benutzt werden. Der Toddymaker trägt einen Gürtel mit einer Tasche auf dem Rücken. Darin stecken ein breites Messer und ein kurzes Beil, womit die Blüten eingekerbt werden. Ein Tongefäß wird darunter gehängt, in dem der „Saft“ aufgefangen wird. Zwanzig Tage lang muss der Toddy stehen, dann kann man ihn trinken. Wir nehmen uns für abends noch eine Zweiliter-Plastik-Flasche mit. Mir schmeckt der ganz frische Toddy am besten, dann ist er leicht prickelnd, ähnlich wie der erste Federweiße.

KB: Ein junger Mann kam auf mich zu und bot mir eine Beedi an. Ich wollte mich mit einer Navy Cut revanchieren, doch er lehnte freundlich ab. Mit großer Herzlichkeit nahmen wir Abschied von den wunderbaren Menschen, die von uns und von denen wir kaum mehr wußten, als dass wir der gleichen Gattung angehörten. Das ganze Dorf stand versammelt und winkte uns nach. Im Schrittempo fuhren wir unter dem weiten Himmel den Weg, den wir gekommen waren, zurück. Am ersten Wehr, das den Wasserzufluß regulierte, saß auf einer Ausbuchtung des Damms, umgeben von mehreren Männern, ein Fischverkäufer. AM stieg aus, machte eine Plastiktüte leer und ließ sie mit einem ganzen Haufen klitzekleiner Fische füllen, die Ameni uns zum Lunch braten sollte.

Wir ließen PM mit dem Landrover langsam vorausfahren und gingen zu Fuß weiter. Diese Landschaft wollte begangen werden. Beim Gehen fiel uns ein, woran dies alles erinnerte: an die scheinbar endlosen Salzfelder der Camargue. Eine leichte Brise machte die Hitze erträglich. Wir bewunderten die Menschen, die mit teilweise vorgeschichtlichen, teilweise aber auch schon halbtechnisierten Mitteln die Felder kultivierten. Obwohl die Arbeit ohne Hektik vonstatten ging und einen - vielleicht trügerischen - Einklang von Natur und Mensch vermittelte, der in der Landwirtschaft des Westens verloren gegangen ist, waren wir bemüht, nicht der sozialromantischen Versuchung zu erliegen, die Arbeit auf einem Reisfeld für leicht und angenehm zu halten.

Beim nächsten Wehr waren zwei Männer damit beschäftigt, aus der Schleusenkammer das Wasser abzulassen, um das Netz, das darin ausgelegt war und in dem ein paar kleine Fische zappelten, zu bergen. Einer der beiden Männer, die sehr konzentriert und, wie uns schien, professionell ihrem Nebenerwerb als Fischer nachgingen, sprach ein paar Brocken Englisch und versuchte uns etwas zu erklären, was wir aber leider nicht verstanden. Wir gingen deshalb langsam zum Auto vor, das PM inzwischen angehalten hatte. Als wir das Auto fast erreicht hatten, kam der jüngere der beiden Männer hinter uns her und redete mit AM auf Malayalam. AM sagte: Er möchte fotografiert werden. Der etwa Dreißigjährige ließ seinen Mundu, den er knielang getragen hatte, mit einem Griff auf die Knöchel hinab, was ein Ausdruck der Ehrerbietung uns gegenüber war. Das lange Handtuch, das er turbanmäßig um den Kopf gewickelt hatte, griff er mit beiden Händen und zerrte es wie einen Expander mit ausgestreckten Armen hinter seinem Rücken auseinander. Sein behaarter, eher schmächtig gebauter Oberkörper war es nicht, was uns beeindruckte, es war die wilde Entschlossenheit in seinem bärtigen Gesicht, wenn schon nicht real, so doch wenigstens auf einem Foto in den gelobten Westen zu reisen.

Ein paar Meter weiter begegneten wir noch einmal den beiden jungen Männern, die uns auf der Hinfahrt die Fische gezeigt hatten, die sie mit ihren Blasrohr-Harpunen gefangen hatten. Auch sie stellten sich bereitwillig in Positur und taten so, als ob sie auf der Jagd wären, doch hatten die Fische wegen der Unruhe, die unser Besuch auf dem Damm bewirkt hatte, wohl alle die Flucht ergriffen. Über eine Behelfsbrücke aus zwei krummen Bambustämmen mit einem wackligen Geländer dran hangelten wir uns zur anderen Seite des Kanals, wo uns zwei kleine Jungs stolz die Fische zeigten, die sie heute Morgen gefangen und auf eine Leine gezogen hatten, damit sie sie besser nach Hause transportieren konnten, wo sie ein Abendessen ergeben würden. In Ufernähe stand ein Mann bis zur Brust im Wasser und wusch liebevoll seine Wasserbüffel. Es waren zwei kleine und zwei große, von denen nur die Köpfe mit den melancholischen Augen und den eindrucksvollen Hörnern sowie die schwarzen, glänzenden Rücken aus dem Wasser ragten.

Streik: Cherpu autofrei
Es hatte wieder angefangen zu regnen. Gegen vier, als der Regen eine kurze Pause machte, stiegen wir in die Wasserlatschen und machten mit PM einen Spaziergang nach Cherpu, um die aktuelle Streiklage zu sondieren. Auf dem Weg zur Hauptstraße begegneten wir einem winzigen Kätzchen, das eine offene Wunde auf dem Rücken hatte und sehr zerrupft und krank aussah. Es war höchstens eine Woche alt und versuchte, kläglich miauend, uns auf tapsigen Pfötchen zu folgen, dass es

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