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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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[Kerala 2004 - Seite 36/39]

uns fast das Herz zerriß, doch PM meinte, es sei wahrscheinlich so krank, dass niemand sich traute, es anzufassen. Man konnte ihm nur einen schnellen, gnädigen Tod wünschen.

Die Hauptstraße, auf der sonst um diese Tageszeit der Bär tobte, war autofrei und Cherpu eine Geisterstadt. Obwohl fast alle Läden zu waren, konnten wir unter dem Ladentisch ein paar Päckchen Zigaretten kaufen. Auch der Schuster, den RR anzutreffen gehofft hatte, damit er ihre Sandale repariere, hatte es vorgezogen, sich unsichtbar zu machen. Das Teehaus, das PM uns hatte zeigen wollen, war ebenfalls geschlossen. Nur Apotheken hatten geöffnet und erlaubten im Abstand von zehn Metern einen Blick auf das bunte Sortiment in ihren Regalen. Vor heruntergelassenen, eisernen Rolläden lungerten ein paar Figuren herum. Einige schliefen auf den leergeräumten Verkaufstischen, wo sich sonst die Waren türmten - Inder konnten offensichtlich immer und überall schlafen - andere saßen und starrten fatalistisch ins Leere.

In einem Bretterverschlag saß der ‚Militärarzt’. Bei ihm handelte es sich um einen pensionierten Sanitätsgefreiten der Indischen Armee, der Tiere und kleinere Verletzungen beim Menschen, soweit sie unterhalb der OP-Schwelle lagen, behandelte. Im europäischen Mittelalter wäre er ein ‚Bader’ gewesen. Wir fragten lieber nicht, ob er auch Zähne zog. Er fühlte sich sichtlich geschmeichelt, als PM in sein Kabuff trat und ihn mit Handschlag begrüßte.

Ein junger Mann, der in einer Gruppe anderer, halbnackter Männer auf den Betontreppen eines geschlossenen Ladens gehockt hatte, stand auf und kam etwas schwankend auf uns zu und gab PM die Hand. Er hatte ein intelligentes Gesicht, sprach gutes Englisch, stank nach Toddy und begann aus dem Stegreif einen Vortrag über den US-Imperialismus. Ein kommunistischer Intellektueller, der seinen Frust über das Elend der Welt im Alkohol ertränkte.

Es hatte wieder heftig zu regnen begonnen, so dass wir uns auf den Rückweg machten. Dabei konnten wir einen Blick in ein paar Bretterverschläge am Straßenrand werfen, die den Duft unsachgemäß angelegter Komposthaufen verströmten. PM sagte, es seien Verkaufsstände, die zum Basar gehörten, in deren Inneres man sonst nicht sehen konnte, weil es die Menschenmassen, die sich hier aufhielten, wenn nicht gestreikt wurde, gnädig verdeckten... Schließlich fanden wir trotz Streiks eine Rikscha, die uns nach Nalukkettu fuhr.

Die Stadt, der Müll und der Schumacher
Einen Kerala Handicraft Shop, der sich am Ende der Palace Road befinden sollte, fanden wir nicht. Dafür das Tourist Office, wo uns eine junge Dame den Weg zum nächstgelegenen Handicraft erklärte. Die Hitze lag wie ein gläserner Deckel auf der Stadt. Durch Lärm, Dreck und Gestank wankten wir unter einer fast senkrecht stehenden Sonne an Müllansammlungen und offenen Abwasserkanälen vorbei, in deren grünlich schleimiger Brühe tote Ratten schwammen. In einem Anfall agressiven Masochismus hatte ich mich entschlossen, heute nur Müllensembles zu fotografieren und freute mich daher über jedes gelungene Exemplar, dem wir begegneten. Worüber ich mich sonst aufgeregt hätte, betrachtete ich jetzt mit sowohl gespannter Gleichgültigkeit als auch der Leidenschaft des Sammlers durchs Objektiv der Kamera.

RR: Ich hatte meine Schuhe dabei, eine Art Leder-Flip-Flops, wo bei einem ein Riemchen ausgerissen war und hielt, gleich nachdem wir in Trichur angekommen waren, Ausschau nach einem Schuster. In den vergangenen Tagen hatte ich öfter welche auf dem Bürgersteig sitzen sehen. Nach einigen Metern entdeckte ich einen. Er lächelte freundlich, guckte dann aber doch ziemlich
erschrocken, als ich vor ihm stehen blieb. Englisch sprach er nicht. Also hielt ich ihm beide Schuhe hin und zeigte ihm, was er machen sollte. Jetzt guckte ich erschrocken, als er anfing, bei dem heilen Schuh das Riemchen auch noch herauszuziehen. Ich riss ihm den
Schuh aus der Hand und erklärte noch einmal. Neben mir hatte sich ein etwa neunjähriger Schuljunge aufgebaut, der sich begeistert als Dolmetscher versuchte, allerdings ohne großen Erfolg. Mittlerweile hatte sich ein Zuschauerkreis um uns herum gebildet, dieses Schauspiel wollten sich die Leute nicht entgehen lassen. Nachdem der Schuster endlich verstanden hatte, was ich wollte, betrachtete er einen Moment seine vor ihm ausgebreiteten fünf Werkzeuge, holte tief Luft und fing entschlossen an zu arbeiten. Hinter mir hörte ich KB’s Kommentar ‚Den Schuh kannst Du wegschmeißen!’, worauf ich ein gequetschtes ‚Egal, lass ihn mal machen’ heraus brachte. Der Schuh war in fünf Minuten repariert, ich bekam ihn strahlend überreicht. Als ich den Schuster fragte, was er dafür bekäme, fing er an, mit einem Kumpel, der neben ihm hockte, zu diskutieren. Da sie offenbar zu keiner Einigung kamen, wandte ich mich an den kleinen Jungen, der meine Frage übersetzte, aber auch keine Antwort bekam und grinsend die Schultern zuckte. Schließlich gab ich dem Schuster fünf Rupien (ca. acht Cent) - das hatte der Schneider für eine vergleichbare Arbeit verlangt - und fragte, ob das ok sei. Er nickte, und alle waren zufrieden. Wie lange die Reparatur hält, wird sich erst im Sommer 2005 in Frankfurt zeigen...

Use Me...
KB: Die Bakery in der kühlen Sauberkeit des City Center verkaufte heute wieder Tea. Chickensandwich, auf das ich mich gefreut hatte, gab es leider nicht. Dafür Sandwich EUROPA, ein längs aufgeschnittenes, gebratenes Hot Dog mit Käse und Grünzeug. Der nackte Selbsterhaltungstrieb zwang mich, die Hälfte davon runterzuwürgen. Durch die breite Fensterfront sahen wir einer jungen Frau zu, die mit Besen und Kehrschaufel beschäftigt war, imaginären Dreck aufzufegen. Man braucht nicht zu betonen, dass das City Center, in dem nur gut betuchte Leute einkauften, vor Sauberkeit blitzte. Überall standen nicht zu übersehende blaue Abfalltonnen mit der Aufschrift Use me... Auf jeder Etage gab es jemanden, der mit Besen und Schrubber zugange war. Es ging also. Für die Reichen konnte es nicht sauber genug sein.

Öffnen verboten
Wir trotteten durch die glühende Hitze an den ärmlichen Marktständen vorbei in Richtung Busbahnhof. Nirgendwo gab es Schatten. An der Schnapsbude kaufte ich fünf Flaschen Bier, davon eine eisgekühlt. Ich bat den Verkäufer, die Flasche zu öffnen. Der winkte nur ab. Ich dachte fuck you und bat den jungen Mann am benachbarten Kiosk um den gleichen Gefallen. Mir wurde erklärt, dass es strengstens verboten sei, Alkohol auf der Straße zu konsumieren. Mit dem Öffnen der Flasche hätte er sich strafbar gemacht. Ich bedankte mich für die Information und kaufte ihm eine Flasche kaltes Wasser ab, die wir im Bus nach Cherpu leerten.

Der Palast des letzten Maharajas
Vinod, PM’s Architekt, erwartete uns vor dem großen schmiedeeisernen Tor, durch das man, unter einem hellblau getünchten, steinernen Triumphbogen hindurch, auf das Gelände des ehemaligen Maharaja-Palastes am Ende der Palace Road gelangte. Man war dabei, in dem Park, der das Gelände auf einer Seite säumte, eine Art botanischen Garten anzulegen. Es gab englischen Rasen, eine künstliche Hügellandschaft aus stachligem indischen Gras, typische Keralagewächse, Heilpflanzen, einen Schmetterlingsgarten. Ein mittelgroßer See war auf dieser Seite des Grundstücks die Grenze zur Stadt, der Rest war von einer hohen Steinmauer umgeben, die in ihrer Ornamentik an manchen Stellen an eine Aneinanderreihung von Grabmälern erinnerte. In einem verborgenen Winkel sahen wir das ziemlich verwitterte Vorbild für die steinerne Sitzbank, die der Architekt für das Grundstück in Nalukkettu entworfen hatte. Obwohl einige alte Bäume mit ausladenden Kronen herumstanden, war der größte Teil des Geländes ohne Schatten. Auch die gepflegte Künstlichkeit der Gartengestaltung konnte den Eindruck nicht verwischen, dass man sich auf der erhitzten Oberfläche von feinkörnigem Sandpapier bewegte. Das Klima verlieh allem, auch dem elegantesten architektonischen Detail, eine unterschwellige Qualität von klebriger Rohheit.

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