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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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[Kerala 2004 - Seite 4/39]

Wir hatten die unsichtbare Grenze erreicht, wo es an der Zeit war, die Sandalen auszuziehen und sich dem Tempel barfuß zu nähern, was dazu führte, dass sich zu den Geruchsirritationen noch das nicht sehr angenehme Gefühl gesellte, auf gerade verglühten Holzkohlen zu gehen. Nachdem wir unser Schuhwerk einem dünnen Männlein am Straßenrand überlassen hatten, das uns dafür ein Stück Pappe mit einer Nummer darauf überreichte, versuchten wir, einen Moment im Menschenstrom stehen zu bleiben und andächtig einer Gruppe von Jugendlichen zu lauschen, die sangen und auf traditionellen Instrumenten spielten. Doch die Menge schob uns unweigerlich immer näher zur Tempelpforte, die ihr blaugelb flackerndes Maul vor uns aufriss. Wir merkten, dass PM immer nervöser wurde und ratlos auf seiner hohen Denkerstirn herumkratzte. Offensichtlich befand er sich in einem Loyalitätskonflikt. Einerseits wäre er gern in den Tempel gegangen, was er mit dem Papier To Whom It May Concern, welches ihn als Hindu auswies, ruhigen Gewissens hätte tun können, andererseits scheute er davor zurück, die Vorschriften seiner neuen Wahlreligion zu übertreten, die besagten, dass wir als Nicht-Hindus im Tempel nichts zu suchen hatten. Als Novize war er nur nicht so ganz sicher, für welche Tempelbereiche das galt. Da RR und ich nicht einsahen, warum wir barfuß im Dreck vorm Tempeleingang herumstehen sollten, ließen wir uns von der Menge in den Innenhof schieben, auch auf die Gefahr hin, in unserem europäischen Outfit gesteinigt oder zumindest von der Tempelsecurity mit sanfter Gewalt zum Ausgang zurückbegleitet zu werden. (RR: Die sechs Touristen waren Schwaben, was unschwer an der Sprache zu erkennen war. Die teilweise etwas fülligen, blond gefärbten Damen trugen Tops mit Spaghetti-Trägern. Wir hatten uns bereits seit Monaten nicht nur mit indischer Literatur, sondern auch mit den grundlegendsten Benimmregeln beschäftigt. Daher wusste ich, dass frau einen Hindu-Tempel, sofern das Betreten des Tempel-Bereichs überhaupt gestattet war, dies immer nur mit bedeckten Oberarmen und nie im Mini-Rock tun sollte. Deshalb fühlte ich mich auch keinesfalls unwohl in meinem leichten, langen Sommerkleid mit kurzen Ärmeln. Später erfuhr ich, dass generell für Frauen das Zeigen der bloßen Oberarme als unschicklich gilt, einen nackten faltigen Bauch zur Schau zu stellen, ist in Ordnung. Ich empfand übrigens den von der Hitze des Tages ganz warmen Asphalt und staubigen Sand als nicht so unangenehm. Warum man allerdings immer barfuß durch den Dreck laufen muss, sobald man einen Tempel-Bereich betritt, ist uns nie ganz klar geworden.)

Im Tempelinneren blakten die Öllampen noch gewalttätiger, waren die Gerüche noch intensiver, die Farben noch verwirrender. Doch die Menschen waren so damit beschäftigt, geduldig in langen Schlangen stehend, ihren Gottheiten nahe zu kommen, dass ihnen gar nicht auffiel, dass wir nicht hierher gehörten. Mit Andacht vortäuschenden Gesichtern machten wir eine Runde um den hohen Schrein in der Mitte des Hofes. Wenn PM die Hände flach vor der Brust zusammenlegte und sich in irgendeine Richtung verbeugte, versuchten wir das nachzumachen. Was uns offensichtlich gelang, denn niemand belästigte uns. Trotzdem verzichteten wir auf eine zweite Runde, wie PM, inzwischen mutig geworden, vorschlug.

Wir hatten gerade für zwei Rupien unser Schuhwerk ausgelöst und gingen gegen den Strom der Menschen in Richtung Auto, als aus der Menge ein schmächtiges Männchen mit glasigen Augen auf mich zu torkelte, seine Spinnenarme nach mir ausstreckte und versuchte, meine Unterarme zu umklammern. Ich hatte keine andere Wahl, als den Menschen, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, unsanft zur Seite zu stoßen, und PM meinte grinsend, unsere Feststellung von vorhin, dass es verwunderlich sei, hier bei so einem Fest gar keine Besoffenen zu sehen, habe sich damit wohl von selbst erledigt...
Musik im Familientempel
Egal ob Fahrrad, LKW, Rikscha oder Bus, kaum ein Fahrzeug, dem wir auf der nächtlichen Landstraße begegneten, hatte Rücklichter. Bange Sekunden, wenn jemand mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern und dröhnender Hupe entgegenkam. Auf den unbefestigten Seitenstreifen wanderten Menschen in Großfamilienformation durch die grüne Dunkelheit. Darunter manch schwankende Gestalt. Auf einem Motorrad fanden manchmal bis zu fünf Personen Platz. Vor dem Fahrer zwei halbwüchsige Kinder auf dem Benzintank, dahinter im Damensitz, ein Kleinkind auf dem Arm, die Gattin im flatternden Sari. Wir versuchten uns einzureden, dass das nun mal Bestandteil der Folklore war, doch schien es eine verdammt gefährliche Folklore zu sein.

In Trichur parkten wir in einer abgelegenen Seitenstraße. Durch ein unauffälliges Portal in einer Mauer betraten wir einen von einer Öllampe erleuchteten Innenhof. Im Hintergrund sahen wir eine offene Halle mit einem Wellblechdach, die an eine Garage erinnerte. In der von grellem Neonlicht erhellten, nüchternen Studioatmosphäre saßen etwa fünfzehn Leute auf weißen Plastikstühlen und lauschten drei Männern, die auf einer leicht erhöhten Bühne im Schneidersitz saßen und trommelten. Es herrschte eine andächtige Konzertstimmung. Man hörte sehr konzentriert zu und schlug bisweilen mit weit ausholenden Armbewegungen den Rhythmus auf die Oberschenkel. Manchmal sang einer der drei Männer auf der Bühne, und alle schienen zu wissen, wovon er sang. Es waren Geschichten aus einem der vielen Sanskrit-Epen, mit denen jedes indische Kind aufwächst. Sie werden auch über Comics oder TV-Seifenopern unters Volk gebracht. Manchmal erzählten nur die Trommeln, und der Sänger kommentierte das Geschehen, manchmal war es umgekehrt. Auch wenn uns alles hier noch sehr fremd war, so war uns doch klar, dass wir ein Stück faszinierender, authentischer keralischer Hochkultur erlebten.

Wir saßen hinter der letzten Stuhlreihe auf einer niedrigen Betonmauer. Vor uns an einem Tisch der Kassierer, auf einem Stuhl neben uns der siebzigjährige Präsident des Vereins, der sich zum Ziel gesetzt hatte, diese alte Musikkultur zu pflegen, um sie vor dem Verschwinden zu bewahren. Jugendliche, wenn sie nicht gerade von ihren Eltern zu Veranstaltungen mitgeschleppt wurden, interessierten sich kaum noch für diese Musik. Deshalb konnte sie nur auf Vereinsebene und in privaten Veranstaltungen überleben. PM war Mitglied in einem guten Dutzend Vereine dieser Art, so auch in diesem, also kramte der Kassierer, als RR eine Spende von hunderteins Rupien überreichte, eine Visitenkarte von PM hervor, schrieb bedächtig in Schönschrift eine Quittung aus, die er uns feierlich überreichte.

Während die Musiker trommelten und sangen, hatten wir immer wieder Männer und Frauen, auch Kinder, beobachtet, die in einem für uns nicht einsehbaren, rechts vom Zuschauerraum gelegenen Bereich verschwanden, wo wir die Toiletten vermuteten. Die Männer waren mit knöchellangen, weißen Mundus bekleidet, die Oberkörper waren nackt, nur das weiße, gefaltete Handtuch lag auf der Schulter, manchmal auch eine Brahmanenschnur. Es sah aus, als gingen sie duschen. Gegen eine Dusche hätten wir nichts einzuwenden gehabt, denn der Körper war von einem klebrigen Film aus Schweiß und Staub bedeckt. Doch PM klärte uns auf, dass da, wo wir Duschen vermuteten, sich das Allerheiligste befand, wo man der Gottheit kleine Opfergaben darbrachte, die man hier kaufen konnte und deren Preise, wie auf der Speisekarte einer Würstchenbude, an einer Säule angeschlagen waren.

Gegen Ende der Veranstaltung zählte der Kassierer auf Anweisung des Präsidenten eine bestimmte Geldsumme für jeden Musiker ab und steckte sie in Papiertüten, die

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