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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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PROVENCE, September 1998

ein Reisebericht

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Ein paar Kilometer weiter die Dunes de l'Espiguette. Die Sonne knallt. Wir kommen an einen Schlagbaum - und sollen Park¬platzgebühren zahlen. Das tun wir nicht, denn in einiger Entfernung vom Schlagbaum gibt es Parkbuchten, wo man kostenlos par¬ken kann, von dort aus wandern wir zu Fuß los.

Auf halbem Weg geht rechts eine Schotterpiste ab. Auch hier ein Schlagbaum, wenn auch geöffnet. Da hatten wir erst parken wollen. Ließen es aber zum Glück sein. Hinterm Häuschen des Parkwächters hüpfen wir über einen kleinen Graben und gehen unbehelligt, wenn auch mißtrau¬isch beäugt, in Richtung Dünen. Ein Schild: Eingang nur für Promenades à Cheval (also: Nur für Pferde) läßt uns beschließen: wir nix verstehen, und wir gelangen, den trockenen Pferdeäpfeln folgend, in die Dünen. Es sind riesige Wanderdünen, die unter strengstem Naturschutz stehen und einmalig für Europa sein sollen. Wäre nicht ganz weit weg das Meer, könnte man sich vorstellen, in der Sahara zu stehen.

Ein paar Meter entfernt wachsen die herrlichsten Schirmpinien. Da fällt uns ein, die Kids hatten erzählt, letztes Jahr auf ihrem Campingplatz an der Cote d'Argent waren sie von Pinienzapfen fast erschlagen worden, hatten es aber nicht geschafft einen mitzunehmen und wünschten sich so sehr einen, also: ....der eine ist zu klein, dem anderen fehlt eine Zacke, die übrigen hängen unerreichbar in den Zweigen. Die Verkrüppel¬ten als Wurfgeschoß benutzend, gelingt es zwar, ein oder zwei abzu¬schießen, aber die stehen voll im Saft, und Saft bedeutet Harz, und der läßt die Fingerkuppen aneinander festkle¬ben....

Guter Dinge, wenn auch etwas gefrustet, machen wir uns auf den Rückweg, hüpfen wieder über den Graben, sehen ein großes schmiedeeisernes Tor, das geöffnet ist und den Blick auf eine sympathisch verwilderte Parklandschaft freigibt. Und direkt hinter dem Tor steht eine riesige alte Pinie. Und in ihrem Schatten liegen die schönsten Zapfen. Mit angehaltenem Atem und auf Zehenspitzen sammeln wir die Dinger auf. Als wir mit dieser unschuldigen Beute beladen aus dem Tor heraustreten, kommt uns die Dame des Hauses mit Einkaufstüten beladen über die Schotter¬piste entgegen. Ein melancholischer Blick auf die Eindringlinge. Behutsam schließt sie das Tor hinter sich. Auch der Schlagbaum ist jetzt unten. Wir wissen nicht warum, doch wir schämen uns ein bißchen...

Wir fahren weiter Richtung Montpellier, biegen kurz ab in einen scheußlich mondä¬nen Badeort namens La Grande-Motte, halten nach einem Bäcker Ausschau, den wir nicht finden und kehren wieder zurück auf die Hauptstraße. Vorher hatten wir Le Grau-du-Roi, ein ehemaliges Fischerdorf heimgesucht. Ziemlich scheu߬liche Fe¬rienburgen und ein kleiner Yachthafen. Im Juli/August muß es knüppelvoll sein, im September kann man wunderbar durch hübsche Gassen laufen und auf den Terras¬sen fast leerer Bistros in der Sonne sitzen.

In Montpellier fahren wir immer den Parkplatz-Schildern nach, die uns in die Histo¬rische Altstadt führen sollen. Eine halbe Stunde quälen wir uns im Stop-and-Go durch die Stadt, sichten endlich ein Parkhaus und reihen uns in eine Warteschlange ein. Nach ca. 5 Minuten steige ich aus, um nachzuschauen, warum es nicht weiter¬geht. Das Parkhaus ist voll und nur wenn ein Auto rausfährt, kann ein wartendes reinfahren... Wir haben die Nase voll, und da wir keine Lust haben, eine Stunde vor dem Parkhaus zu warten, düsen wir zurück nach Stes. Maries.

Auf dem Campingplatz haben sich während unserer Abwesenheit die Mücken ge¬waltig vermehrt. Die kleinen Biester umschwirren uns in dichten, agressiven Wolken und stechen durch Socken und Pullover, bis wir aussehen, als hätten wir gerade die Windpocken gehabt.

Und dann hören wir sie: die Zikade, das Wappentier der Provence. Wir gehen dem schrillen Gesang nach. Sie sitzt im Innenhof einer, wegen der nur wenigen noch vorhandenen Touristen bereits geschlossenen Sanitäranlage und singt und singt - das zweige¬strichene C. Und an den weiß gekalkten Wänden kleben viele kleine grüne Frösche und hören ihr zu...

In Nimes finden wir problemlos ein Parkhaus, sehen uns die Arena an, die mit den auf die alten römischen Steinquader geknallten Plastikstuhlreihen etwas zwiespältig aussieht. Wir beschließen, uns trotzdem nicht zu ärgern, daß wir für diesen Anblick bezahlt haben.

In den Gässchen der Altstadt herrscht lebhaftes mediterranes Treiben. Die Lädchen sind elegant und teuer. Die Damen sind außerdem noch selbstbe¬wußt und hübsch...

Vor einem kleinen Bistro sitzend finden wir das Leben recht angenehm. Wir schauen und denken uns, dass, wenn man Arles gesehen hat, man auch die anderen Städte der Provence gesehen hat. Es ändern sich nur die Namen der alten Steine und Kirchen.

Abends besuchen wir die Kirche in Stes. Maries. Wenn man sich vorstellen könnte, daß so etwas wie ein Gott in einem ummauerten Raum lebte, dann könnte man das hier. Da es eine Wehrkirche war, sind fast alle Fenster zugemauert. Nur durch eine runde Öffnung hoch über dem Altarraum kommt Sonnenlicht herein und erzeugt ein diffuses Zwielicht zwischen den hohen, unverputzten Mauern. Alles ist schlicht, kein Protz, kein Gold, kein Stuck. Trotzdem strahlt die Kirche eine durchgeistigte, schwer¬mütig-heitere Sinnlichkeit aus, die in sich selber ruht und auf die Drohgebärden der Macht verzichten kann.

In einer Krypta, die so niedrig ist, dass man mit dem Kopf fast an die Decke stößt, sehen wir die Holzstatue der Heiligen Sara, die im Mai jeden Jahres von Zigeunern aus aller Welt in einer lärmenden Prozession ein paar Meter ins Meer hinausge¬tragen wird. Der Legende nach war Sara die schwarze Dienerin der beiden heiligen Marien, die auf einem unbemannten Boot vom Heiligen Land übers Meer getrieben und hier an Land gegangen waren, wo sie Wunder vollbrachten... Hinter der Statue stehen weggeworfene Krücken und überall an den Wänden hat man Steintafeln mit der Aufschrift Merci angebracht. Ein Lourdes im Kleinformat. Da man in dem niedrigen Raum, der von einer Unmenge Kerzen erhellt und aufgeheizt wird, kaum atmen kann, flüchten wir nach oben ins strahlende Blau des Mittelmeer¬abends. Einem Aushang entnehmen wir, daß am Samstag um 18 Uhr eine Heilige Messe gelesen wird. Die werden wir uns reinziehen.

Heute bezahlen wir die Parkgebühr am Strand von L'Espiguette und können über eine breite Sand¬piste bis zum Fuß der Dünen vorfahren. Nach kurzem Fußmarsch sehen wir das Meer. Und Himmel. Und Sand. Kilometerweit Sand und Meer. Eine kleine Rettungsstation. Ein Leuchtturm. Am Horizont ahnt man die Betonburgen des nächsten Urlauber¬ghettos. An einer windgeschützten Stelle legen wir uns in den warmen Sand und halten für eine mediterrane Stunde die Zeit an.

Zurück im Auto sind wir uns einig, daß die "Parkplatzgebühr" mehr als gerechtfertigt ist. Sie sollte erhöht werden. Ist sie doch eher der geringe Preis, den man bezahlt, um einen kleinen Ausschnitt aus dem paradiesischen Urzustand zu erleben. Nicht auszudenken, daß man hier zum Nulltarif alles niedertrampeln könnte, wie es etliche Kilometer entfernt geschieht.

Auf dem Rückweg hüpfen wir noch mal nach Aigues Mortes rein. Diesmal kommen wir von der anderen Seite und landen gleich auf dem zentralen Platz, der eine ein¬zige Freßkneipe ist. "Die Stadt wurde auf Wunsch Ludwigs IX. erbaut, um dem Königreich einen Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen. Aigues-Mortes ist seit dem 13. Jahrhundert intakt geblieben." So steht es auf einem kleinen Info-Blatt. In der Mitte des Platzes das Bronzedenkmal von irgendeinem mittelalterlichen Heinrich, der von hier mit seiner Flotte aufgebrochen war, um das Heilige Land aus den Händen der Ungläubigen zu befreien. Diesen Raubzug, wo die Hoffnung auf fette Beute mit ein bißchen christlicher Ideologie übertüncht war, nannte man Kreuzzug, das hörte sich besser an und konnte von den Pfaffen abgenickt werden.

Die Geschichte der Stadt ist mit Blut und Weihrauch geschrieben. Während der Religionskriege, die hier in der Provence besonders heftig tobten, sollen die Straßen so voller Leichen gelegen haben, daß man nicht mehr wußte, wohin damit. Man stapelte sie kurzerhand in einem der großen Türme der Stadt¬mauer: eine Lage Leichen, eine Lage Salz, eine Lage Leichen.... Das Pökelfleisch war erfunden. An¬sonsten ein reizendes Städtchen mit reizenden Bewohnern, die von morgens bis abends darüber nachsinnen, wie sie es am besten anstellen, daß das Geld in meiner Tasche unruhig wird und in ihren Taschen um Asyl bittet.

Vorm Stadttor bahnen wir uns den Weg zum Parkplatz durch betteln¬de Zigeu¬nerinnen. Ein kleines Mädchen, ca. 5 Jahre alt, läßt nicht locker, folgt uns ein paar Meter, hält uns das geöffnete Händchen entgegen, große schwarze Augen, die bis ins Innerste unserer Geldbörse sehen... Seufzend drücken wir ihr, von so viel Folk¬lore überwältigt, ein 10-Franc-Stück ins schmutzige Patschhändchen, ein ungläubi¬ger, dann triumphierender Blick und wie der Blitz ist sie zurück bei Muttern, die das Geld gelassen in Emp¬fang nimmt.

Abends auf dem Platz: Wir versuchen tapfer, die riesigen Mückenschwärme zu ignorieren, bis plötzlich ein Pulk nicht gerade kleiner Libellen innerhalb von Sekun¬den die Mückenpest überm Auto abräumt. Bravo. Da capo!

Wir machen uns noch einmal auf die Suche nach Daudet's Mühle und fahren nach Fontvieille, denn dort hatten wir eindeutige Hinweisschilder gesehen. Beim dritten Anlauf entdecken wir tatsächlich den Parkplatz, der zur Mühle gehört. In der Hoch¬saison wären wir sicher nicht zweimal daran vorbeigefahren, aber im September steht dort kaum ein Auto. Nachdem wir die Parkplatzgebühr bezahlt haben, steigen wir einen Hügel hoch und da steht sie vor uns. Ein paar Touristen sind auch da, das Innere der Mühle schen¬ken wir uns. Denn mittlerweile haben wir natürlich gelesen, daß Daudet nie in "seiner Mühle" gelebt hat, trotz der "Briefe aus meiner Mühle". Und daß es höchstwahrscheinlich eine ganz andere Mühle war, die die Provencalen ihrem berühmten Dichter schenkten. Die jetzt als "Daudet's Mühle" bezeichnet wird, war einfach die am besten erhaltene und vor allem von Touristen am leichtesten zu errei¬chende gewesen...

Unser nächstes Ziel ist Les Baux, ein winziges Nest, in die Kalksteinfelsen der Alpilles gebaut und überragt vom Chateau der Grafen von Les Baux, einer ehema¬ligen, fast uneinnehmbaren Festung. Da wurde in finsteren Zeiten gefressen, ge¬soffen, geliebt, gemordet und - gesungen, denn die Troubadours sollen sich dort die Klinke in die Hand gegeben haben. Wer wen warum im Laufe der Jahrhunderte von den Festungsmauern in die Tiefe schmiß, ist letztlich gleichgültig. Die ganze Chose gehört heute den Grimaldis von Monaco, die sich mit den Parkplatzgebühren und Eintritts¬geldern der 1 1/2 Mill. (in Worten: eineinhalb Millionen) Besucher jährlich ein kleines Zubrot verdienen... Der Förscht möge uns verzeihen, daß wir darauf verzich¬teten, uns gegen eine Wegelagerergebühr von 35 FF ein paar rostige Kanonen im Schlo߬hof anzuschauen...

Im Vorgarten eines als Bistro getarnten Schnellimbiß trinken wir etwas. Mein Panaché kommt in einer eiskalten Büchse. Die stelle ich, nachdem sie leer ist, auf das Mäuerchen neben unserem winzigen Tisch. Ein heftiger Windstoß entführt sie laut schep¬pernd in das darunter liegende Gässchen. Böse Blicke der Kurz¬behosten.

In den Souvenirläden singen die Zikaden - vom Band. Unter den Arkaden eines Innenhofes wunderschöne nackte Weiber -aus Holz. Die üppigen Brüste blankpoliert von den zupackenden Händen sinnenfroher Besucher. In den verlassenen Gässchen der Cité Morte verfällt die Substanz in erhabener Stille. Die Fensterläden der noch bewohn¬ten Häuser sind - verständlicherweise - fast überall geschlos¬sen.

Über kurvenreiche Sträßchen kommen wir aus den Alpilles herunter in eine frucht¬bare Ebene. Silbrige Olivenhaine. Obstplan¬tagen. Dann Maillane. Das Haus, in dem Frédéric Mistral gewohnt hatte, ist noch bis 15 Uhr geschlossen. Beginnen wir also mit dem toten Mistral. Der Friedhof liegt unter einer fast senk¬rechten Sonne. Es gibt kaum Schatten. Auf den schweren Grabplatten stehen Fotos der Verstorbenen. Por¬zellanrosen. Viel schmiedeeiserner Kitsch. Plastikblumen. Kleine graue Eidechsen huschen durch Rosmarin¬sträucher. Schließlich an einem der wenigen Bäume ein verschäm¬ter Pfeil: Le Tombeau de Mistral. In einiger Entfernung direkt an der Fried¬hofsmauer ein kleines Tempelchen mit vier schlanken Säulen. Darin eine Marmor¬platte mit vier Zeilen aus einem Ge¬dicht in provencalischer Sprache. Kein Name. Kein Geburts-, kein Todesdatum. Nur ein paar trockene Thymianzweige, die der Mistral in eine Ecke geweht hat. Wir legen sie in den Innenraum zurück und hoffen, es möge ihm, der hier ruht, gut ergehen in seiner namenlosen Ewig¬keit. Später lesen wir irgendwo, daß auch andere provencalische Dichter auf der Namenlosigkeit ihrer Grabstätte bestanden haben.
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© Klaus Bölling, Frankfurt 2002
 
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