deutsche Version

manasvi.com/manasvi.de
Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
©
Webmail
Rechtshinweis
Feedback
 
 

PROVENCE, September 1998

ein Reisebericht

1
2
3
4
5
6

Zurück fahren wir wieder durch die Alpilles. Die "Kleinen Alpen" erheben sich mit ihren bizarren Felsformationen aus blendend weißem Kalkstein direkt aus der Ebene in Höhen bis knapp 400 Metern. Bei La Caume stei¬gen wir aus und klettern auf einem steilen Pfad durch den Pinien¬wald in Richtung Gipfel. Um unsere Beine hüpfen heuschreckenartige Insekten. RR meint, das seien Zikaden. Ich denke mir, sage aber nichts: das sind sie, die gefährlichen GIBIERS, vor denen ein Schild auf dem Parkplatz warnte (DANGER! DES GRANDS GIBIERS DANS LES BOIS!). Trotz der Gefahr, in der wir uns befinden und in der Hoffnung, daß dies nur kleine Gibiers und die wirklich großen in einem anderen Teil des Waldes sein mögen, zupfe ich für den heimischen Balkon einen wilden Thymianbusch aus dem sandigen Boden, und wir machen uns auf den gefähr¬lichen Abstieg durch Horden bluttrünstiger Gibiers zum 100 m entfernten Parkplatz. Nachdem wir der Gefahr entronnen sind, schlage ich im Langenscheidt unter GIBIER nach. Danach lautet der Text auf dem Schild: In diesen Wäldern gibt es Rotwild. Betreten auf eigene Gefahr...!

Über einsame Straßen zum Etang de Vaccares, einem flachen Binnensee, dessen gegenüberliegende Ufer man nicht erkennen kann. Die Herbstsonne knallt sommer¬lich, wir können trotz der brütenden Hitze im Auto die Fenster nur einen kleinen Spalt öffnen, denn dieses Sumpfgelände bietet Mücken einen idealen Lebensraum. Der Etang de Vaccares, der natürlich unter Naturschutz steht, ist so beeindruckend schön, daß wir anhalten und aussteigen, was bedeutet, dass wir in affenartiger Ge¬schwindigkeit das Auto verlassen, alle paar Sekunden mit den Händen vorm Gesicht wedeln, vor dem Weiterfahren das Wageninnere nach Mücken absuchen und mord¬lüs¬tern alles, was summt, nieder¬machen. Wir lassen uns nicht entmutigen und fahren weiter.

Irgendwann endet die asphal¬tierte Straße. Auf der Karte sehen wir, daß vor uns ein Deich ("La Digue") liegt. Man kann mit dem Auto noch ein Stück weiter¬fahren. Wenn wir nicht sowieso schon durchgeschwitzt wären, hier würde uns der Schweiß aus¬brechen: es geht über eine Sandpiste mit riesigen, z.T. einen halben Meter tiefen Löchern. Endlich lassen wir das Auto stehen und laufen ein Stück auf dem Deich entlang, der ideal ist für Fahrradfahrer und für Mücken...

Laut Karte muß es eine Abkürzung zurück nach Stes. Maries geben. Wir finden die Straße und landen nach ein paar Kilometern vor einer Stierkampf-Arena, die Herrn Ricard (dem Schnapsfabrikanten) gehört, daneben ein großes Ausflugs¬lokal, eben¬falls im Besitz von Herrn Ricard, recht gut besucht und ziemlich scheußlich anzu¬sehen. Hier endet wiederum die asphaltierte Straße, unsere Abkürzung entpuppt sich als löche¬rige, holprige Schotterpiste, und das über schätzungsweise acht Kilometer. Wir scho¬nen unser braves Auto und unsere Nerven und fahren gemächlich, wie wir gekommen sind, zurück zum Campingplatz.

Kurz vor 18 Uhr treten wir, festlich gestimmt in Erwartung der Hl. Messe, in die Kirche von Stes. Maries. Da ist noch nicht viel los. Der Zuschauerraum ist spärlich besetzt. Nur vorm Altar ist High Life. Offensichtlich eine Kindstaufe. Da wird geschnattert und gelacht und fotografiert. Kinder wuseln um die Beine der Erwachsenen. Der recht junge Priester in weißem Ornat und Sandalen versucht zwar einen Anschein von Würde zu erwecken, doch augenscheinlich ist er von der Lebendigkeit dieser Gro߬familie überwältigt und sehr angetan. Nachdem er das vor ihm liegende große Buch ein paar mal auf- und zugeklappt und ein paar rituelle Texte gemurmelt hat, ist die Zeremonie zu Ende. Inzwischen ist es zwanzig nach sechs! Die Damen stöckeln in ihren Miniröcken zum Ausgang. Die Herren folgen in etwas gemessenerer Gangart. Die Brut macht Faxen und rennt in den blauen Spätsommernachmittag hinaus.

Langsam beginnt die Menge, die auf dem Platz vor der Kirche ausgeharrt hat, her¬einzuströmen. Während sich die Bankreihen füllen, behängen sich auf der Bühne, d.h. im Altarraum, die Protagonisten, der junge Priester hat für die Messe Verstärk¬ung bekommen, in aller Seelenruhe mit ihren Kostümen. In¬zwischen ist es halb sieben. Da an einer Falte zupfen. Dort die Stola ein bißchen zurechtrücken. Die Bewegungen sind gemessen. Der Blick nach innen gerichtet. Es ist fünf nach halb sieben. Jetzt noch die Kultgegenstände ein bißchen geraderücken. Prü¬fende Blicke, alles OK. Ein imaginärer Vorhang geht auf. Es ist zwanzig vor sieben. Musik. Das Weihrauchfaß schwenken. Einer der Kostümträger nuschelt ins Mikro. Aus den Bankreihen steigt Gesang auf. Ich denke: Play¬back. RR meint, die singen wirklich so. Eine ondulierte Dame in Zivil geht zur Kanzel, liest einen Text vor, den wir nicht verstehen. Der Priester macht gravitätische Faxen. In den Bankreihen geht man auf die Knie. Wir gehen an die frische Luft.

Wir machen einen autofreien Sonntag und wandern die ca. 2 km am Strand entlang nach Stes. Maries. Auf der Terrasse eines Bistro am Hafen trinken wir einen Pastis und warten auf das Abrivado, die Ankunft der Stiere. Festtagsstimmung auf der Promenade am Hafen. Fische werden direkt vom Boot verkauft. Eine Jazzband spielt Dixieland. Eine fast weiße Sonne am riesigen Himmel. Das Meer ist blau so blau. Dann geht eine kleine Bewegung durch die Menge. Ein Lautsprecherwagen des Club Taurin fegt die Fahrbahn frei. Das anschwellende helle Stakkato von Pferdehufen auf dem Asphalt. In vollem Galopp nähert sich eine keilförmig angeord¬nete Formation von Gardians auf zierlichen weißen Camargue-Pferden. Inmitten des Keils traben drei schwarze Kampfstiere, die heute zum erstenmal die Weide verlassen haben. Am Ende des Hafens ist die Straße abgesperrt. Durch die geöffnete Heckklappe nimmt ein Viehtransporter die drei Stiere auf, die anschließend zum Toril der nahen Arena gefahren werden. Obwohl das Ganze eine knappe Minute dauert, sind wir beein¬druckt und wandern am Strand unter einer fast senkrechten Sonne zurück zum Platz.

Direkt am Bahnhof in Avignon finden wir ein Parkhaus. Wir wandern durch die Porte de la République. Die Stadtmauer erinnert an eine Hollywoodkulisse - Zeitgenossen hatten als sie gebaut wurde schon geunkt, die könne man ja um¬pusten - sie ist wirklich nur einen knappen halben Meter dick und hatte auch lediglich symbolischen Charakter, trotz¬dem steht sie heute noch... Es geht weiter über den Cours J. Jaurès, die Place de l'Horloge, durch eine kleine Gasse, und die marmorne Pracht der Place du Palais tut sich vor uns auf. Rechts türmt sich die Einschüchterungsarchitektur des Papst¬palastes. Eintritt 49 FF. Wir treten nicht ein. Der Dom ist kostenlos zu besich¬tigen. Kitsch, Prunk, Kotz, Protz. Der Spruch: Leben wie Gott in Frankreich hieß ur¬sprüng¬lich "Leben wie der Papst in Avignon", das macht jetzt einen Sinn.

Nach dem obligaten Blick auf den Pont d'Avignon machen wir Rast im Innen¬hof einer Wegelagerei. Ein Café, ein Panaché 31 FF. Absoluter Rekord. "Entschädigt" werden wir durch den Anblick einer Busladung verstörter englischer Touristen, die über eine eiserne Treppe zum Parkplatz hochgetrieben werden. Dieses Elend in den Augen, die nur sehen dürfen, was sie sehen sollen. Zum Trost hat man ihnen dicke Kamera¬objektive vor die buntbehosten, unförmigen, abgearbeiteten Leiber gehängt, die schwitzend, im Sog eines greisenhaft gutgelaunten Animateurs, der vollklimatisier¬ten Sicherheit ihres Reisebusses entgegenstreben.

Ein paar Kilometer weiter südlich liegen die Leute, für die diese Herde Arbeitsvieh schuftet oder ein ganzes Leben lang geschuftet hat, gelangweilt auf ihren Yachten und saufen Champagner. Tucholskys Frage Mitte der 20er Jahre beim Anblick juwelenbehangener "uralter Englän¬derinnen" in den Hallen der Luxusherbergen an der Cote d'Azur: "Wer arbeitet eigentlich für die...?" ist immer noch aktuell, nur, daß im Gegensatz zu damals die Antwort heute für jedermann sichtbar ist.

Durch die hübschen Gässchen der Altstadt schlendern wir zurück zum Parkhaus und bemerken mit Entzücken, daß eine Schicki-Micki-Boutique sich "L'Ane du Pape" ("Der Esel des Papstes") nennt. Das bezieht sich auf ein reizend boshaftes Ge¬schichtchen aus Daudets "Briefen aus meiner Mühle". Da hat ein speichellecken¬der Karrierist am Hof des greisen Papstes dessen Lieblingsesel einen bösen Streich gespielt. Den hatten im Lauf der Jahre alle vergessen - nur der Esel nicht! Als der Schleimer nach Jahren, mit der Ernennungsurkunde für ein hohes Amt am päpst¬lichen Hofe in der Hand, den Papstpalast verläßt und dem inzwischen auch alt ge¬wordenen Lieblingsesel des Papstes eine wohlwollend zerstreute Streicheleinheit zukommen läßt, verpaßt ihm dieser mit seinen Hinterhufen einen Tritt an die Birne - und aus ist's mit der Karriere. Herr, schmeiß Esel vom Himmel!

Punkt 14:30 stehen wir vor Mistrals Haus in Maillane, das jetzt ein kleines Museum beherbergt, und entdecken nach 10 Minuten, daß Montags geschlos¬sen ist... Wir setzen uns auf die Terrasse der Bar "Lou Soleou", Le Soleil, Zur Sonne, trinken ein Bier und einen Anis... Wilder Wein umrankt uns, Bougainville... Der Wirt spielt mit einem Gast im Hinterzimmer Billard, das Klicken der Elfenbeinkugeln ist das einzige Geräusch, das wir hören. Die kleine Place Frédéric Mistral liegt im Sonnenschein, ein Hund und eine Katze ignorieren sich schläfrig, ab und zu fährt gemächlich ein Auto vorbei... Als ich die Kamera holen gehe, hält ein langsam fahrendes Auto mit franzö¬sischem Kennzeichen neben mir: "S'il vous plait Monsieur, la maison Mistral...?" Da kann ich in gepfleg¬testem Französisch Auskunft geben.

Kurz darauf sehen wir den älteren Herrn (Typ: pensionierter Oberlehrer), der am Steuer gesessen hatte, mit flinken Beinen in einem Gässchen verschwinden. Offen¬bar hatte er im Tabac einen Tip bekommen, wo der Schlüssel zu Mistrals Haus zu finden sei. Gefunden hat er ihn wohl nicht, denn kurze Zeit später stehen wir neben¬einander am Postkartenständer des Tabac und greifen gleichzeitig nach den etwas vergilbten Karten. Er scheint tief beleidigt zu sein. Kommt er einmal im Leben mit seinen Damen, die hinten im Auto saßen, nach Maillane, um ihnen La Maison Mistral zu zeigen, das ungefähr den Kultstatus des Hebbel-Hauses in Wesselburen hat, mit dem Unterschied, daß man Hebbel keinen Nobelpreis umgehängt hatte, dann ist ausgerechnet Montag Ruhetag, und dann muß es auch noch ein Boche sein, der ihm den Weg weist... Diese Schmach. Wir überlassen ihn seiner etwas muffigen Arro¬ganz und machen uns auf den Rückweg.

Zurück in Stes. Maries schlendern wir über den kleinen Antiqi¬tätenmarkt vor der Arena. Ziemlich am Rand, im winzigen Schatten eines Bäum¬chens, ein Klapp¬stühlchen, darauf ein Hutzelweiblein, vor sich einen Einkaufsroller (mon caddy, nennt sie ihn), auf dem liegen ein paar Bücher. Ich trete näher, blättere in einem von ihnen (Une Arlésienne à travers le Siècle, etwa Das Leben einer Arle¬sierin in diesem Jahrhundert), schaue das Weiblein an, dann wieder das Buch, frage schließlich: C'est vous qui a écrit ca? Haben Sie das geschrieben? Oui; Monsieur, ce sont mes mémoires... Wir kaufen ihr für 100 FF(!) ein Büchlein ab. Sie besteht darauf, eine Widmung reinzuschreiben. Ich frage Pauline, ob wir sie fotografieren dürfen. Wir dürfen. Sie setzt sofort ihre Mütze ab und richtet sich die Haare. Wir wollen sie aber mit Mütze und sagen ihr, daß wir erst die Kamera aus dem Auto holen müssen. Im Auto schreiben wir ihr auf die Rück¬seite eines alten Einkaufszettels, daß sie eine sehr charmante Madame ist. Pauline strahlt, als ich ihr den Zettel in die Hand drücke, RR macht das Foto, ich über¬setze Pauline, was auf dem Zettel steht und gebe ihr zum Abschied ein Kü߬chen auf die Wange, ihr kullern fast die Tränen übers faltige Gesicht, wir winken ihr noch einmal und gehen. Seitdem haben wir eine 84-jährige Brieffreundin in Arles...

Um 14:30 Uhr sitzen wir in der Arena von Les Stes. Maries, zu unserem großen Erstaunen ist der Eintritt frei. Die Arena ist voll besetzt (wir schätzen ca. 4.000 Plätze). Viele ältere Leute aus der ganzen Umgebung haben auf den Steinbänken Platz genommen, allerdings erkennt man die erfahrenen Zuschauer an den Sitzkissen, die sie mitgebracht haben und daran, daß sie eine Kopfbedeckung gegen die pralle Sonne tragen.

Um 15.00 Uhr beginnt der "Parcours de Manades". Es handelt sich nicht um einen Stierkampf im eigentlichen Sinne, sondern hier werden die Jungstiere vorgestellt und getestet, ob sie Stierkampftauglich sind. Zehn Stiere werden angekündigt, sechs davon sehen wir uns an.

Es wird nun jeweils ein schwarzer Camargue-Stier in die Arena getrieben, der empfangen wird von zehn Razeteurs, weißgekleideten jungen Männern, die ihren Mut beweisen möchten. Drei von ihnen scheuchen den Stier den anderen sieben zu, die auf einer Hand eine Art Kralle aus Metall tragen. Damit versuchen sie, dem Stier Kokarden von den Hörnern zu pflücken. Die jungen Männer sind ununterbrochen in Bewegung, rennen vor den Stieren her und vor ihnen davon und sind nach kurzer Zeit klitschnaß geschwitzt. Wenn sie von einem Stier gejagt werden, retten sie sich mit einem kühnen Sprung über die ca. 2 Meter hohe Holzbarriere, die die Arena umgibt. Zwischen Barriere und Zuschauer¬tribüne befindet sich ein ca. zwei Meter breiter Gang. In brenzligen Situationen bringen die Männer sich dadurch in Sicher¬heit, daß sie über die Barriere bis zum Rand der Tribüne hechten.

Ein Stier bringt das Publikum zum Jubeln und Klatschen: Kaum ist er in der Arena, springt er über die Barriere und rast den Gang entlang, so daß die Menschen in der Arena sind und der Stier dort, wo man sich sonst vor ihm in Sicherheit bringt. Nach etlichen vergeblichen Versuchen scheucht man ihn raus, er taugt nicht für die Arena.

Morgens sprechen uns unsere derzeitigen Nachbarn an. Ein gutes Pärchen, sie Russin, er Österreicher. Beide sind robust gebaut, was Honey, so nennt er sie, nicht daran hindert, ihre üppigen Formen in figurbetonten Minis unterzu¬bringen und dazu in türkisfarbene Stöckel zu steigen... Nachts hatte man ihnen das Zelt aufgeschlitzt und ein Handtuch war von ihrer Leine verschwun¬den. Ca. 30-40 Meter von uns entfernt steht ein großes Hauszelt, in dem ein junges Schweizer Pärchen wohnt. Denen hatte man auch das Zelt aufgeschlitzt und Papiere und Geld geklaut - und das Handtuch der Nachbarn benutzt, damit die Knie beim Aufschlitzen nicht schmutzig wur¬den. An diesem Vorfall merkt man, daß die Saison zu Ende ist, normalerweise patroullieren auf einem 4-Sterne-Camping¬platz rund um die Uhr dezent gekleidete Wachmänner. An unser kuscheliges Iglu hatte sich niemand herangetraut und wir hatten nichts mitbekommen.
1
2
3
4
5
6
© Klaus Bölling, Frankfurt 2002
 
Unsere Linkempfehlung: Reisespinne
 

separation

Copyright © 2002-2007. Alle Rechte vorbehalten.
WebDesign & WebHosting: nalukkettu consulting

manasvi.de