deutsche Version

manasvi.com/manasvi.de
Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
©
Webmail
Rechtshinweis
Feedback
 
 

Relzow, Rügen, September 2003

ein Reisebericht

1
2
3
4
5
6
7

DI 9.9.03.
Es läßt sich nicht mehr leugnen: Mücken gibt es zu jeder Tages- und Nachtzeit. Selbst ich, um den Mücken bis jetzt immer einen großen Bogen machten, bin von Kopf bis Fuß zerstochen. RR’s einer Fuß ist dick geschwollen. Mit den Armen wedelnd gehe ich vorm Frühstück zum in der Mitte des Platzes gelegenen Kaufmannsladen (der nennt sich wirklich so) und hole Brötchen, Croissants und die Ostseezeitung (OZ). Deren Wetterbericht kündigt von Westen her Regen an. Noch ist es sonnig, und die Mücken ficken in ekstatisch wogenden Zusammenballungen. Vormittags spielen wir eine Runde Boule am Strand. Es ist angenehm warm. Der Wind kommt immer noch aus Süd-Ost. Nachmittags gehen wir am Wasser entlang in Richtung Göhren. Die träge vor sich hindümpelnde Ostsee schwappt eine schwarze Gemüsebrühe ans Ufer, die einen zwei Meter breiten Sandstreifen mit stinkendem Algenschleim bedeckt. Offensichtlich fühlt sich um diese Jahreszeit keine Kurverwaltung mehr für die Sauberkeit des Strandes zuständig. Wofür zahlen wir eigentlich Kurtaxe? Bei solcher Wetterlage und den damit einhergehenden Strömungsverhältnissen müßte der Strand wenigstens einmal am Tag umgepflügt werden. Wir sehen zwar Reifenspuren von schwerem Gerät, doch ist der Mensch mit dem Bulldozer wohl nur spazieren gefahren. Auch der FKK-Strand ist nicht dazu angetan, die Stimmung zu heben. Gegrillte Fleischmassen, die die Vergänglichkeit aller Schönheit drastisch vor Augen führen. Alte Säcke, welke Ärsche, Hängetitten. Da wendet sich der Voyeur mit Grausen. Ab einer bestimmten Nähe zum Verfallsdatum des eigenen Körpers sollte man aus Höflichkeit gegenüber den Mitmenschen vorher überlegen, ob man diesen solchen Anblick zumuten möchte. Zumal man nicht mehr mit Nacktheit seine Abneigung gegen ein ungeliebtes politisches Regime demonstrieren muss. Erst gegen acht Uhr abends, als der fast volle, honiggelbe Mond ein paar Handbreit über dem östlichen Horizont steht, sind wir wieder versöhnlich gestimmt. (RR: Um 22.30 Uhr zeigt das Thermometer 17 Grad, wir ziehen uns ins mückenfreie Iglu zurück, die leichten Sommerdecken reichen bei diesen Nacht-Temperaturen völlig aus.)

MI 10.9.03.
Morgens regnet es. RR fühlt sich nicht wohl, hat nicht richtig geschlafen, kriegt schlecht Luft, murmelt etwas von Panik-Attacken und bleibt daher im Zelt, um vielleicht noch ein bisschen Schlaf nachzuholen. Die nächsten zwei Stunden verbringe ich damit, im strömenden Regen ums Auto herumzugehen. Dann werfe ich wieder einen Blick ins Iglu, horche auf RR’s schwere Atemzüge und möchte beten, dass alles nicht so ist, wie es ist. Dann setze ich mich ins Auto, versuche einen Tee zu trinken. Der aufs Blechdach prasselnde Regen macht einen solchen Lärm, dass ich die Heckklappe offenlassen muss, damit ich RR hören kann, falls sie mich brauchen sollte. Die Zeit vergeht im Sekundentakt. Ich halte es nicht lange aus im Auto, laufe wieder und wieder wie ein nasser Hütehund um unseren Lagerplatz, horche auf RR’s Atemzüge, die immer noch nicht sind, wie sie sein sollten. Dann nach gut zwei Stunden wacht sie auf, und es geht ihr besser. Obwohl es in Strömen weiterregnet, hat die Sonne nie heller geschienen. Auf dem Weg zum Kaufmannsladen sehe ich zwei größere und zwei kleine Iglus, wo man auch mit dem Wetter kämpft. Die übrigen Piefis sitzen hinter ihren Caravanwänden wie hinter den Gardinen des Reihenhäuschens in Wanne-Eickel. Im Wetterbericht der OSTSEEZEITUNG lesen wir später, dass Wetterfühlige heute mit Anfällen von Angina pectoris rechnen müssen!

Die Kurgäste auf den Flaniermeilen in Binz sehen aus wie Menschen überall auf der Welt aussehen, die sich an einem verregneten Ferientag auf engem Raum gegenseitig auf die Füße trampeln. Nur die Bäderarchitektur erhebt sich weiß und filigran in den grauen Himmel. An der langen, langen Strandpromenade sehen wir das fast hundert Jahre alte, gediegene Eleganz ausstrahlende Kurhaus und die rostrot in einem kleinen Park liegende Villa Undine aus dem Jahre 1885. Hier möchten wir einmal an einem späten Winternachmittag, wenn auf der Ostsee die Eisschollen krachen, entlangspazieren. Heute ist es leider zu laut und zu voll. Trotzdem bekommen wir einen Eindruck, wie schön es sein könnte. In der Apotheke, nach der wir lange suchen müssen, kaufen wir Mückenspray und eine Creme gegen RR’s offensichtliche Mückenallergie. Ehe wir weiterfahren, essen wir beim direkt am Parkplatz gelegenen Metzger einen sehr guten Hackbraten mit Gemüse und Kartoffeln für 3 Euro 60 und sind, da wir die Preise in den Restaurants der Hauptstraße gesehen haben, nicht erstaunt, dass der Sitzimbiß sehr gut besucht ist.

Nach ein paar Kilometern in Richtung Saßnitz biegen wir in ein feuchtes Laubwäldchen ab. Hier irgendwo soll Prora, der legendäre Koloß von Rügen, vor sich hingammeln. Die Nazis hatten eine Urlaubsfabrik für zwanzigtausend Volksgenossen geplant, deren Fertigstellung durch den Kriegsbeginn 1939 unterbrochen wurde. Urlaub wurde hier nie gemacht. Nach dem Krieg wohnten Flüchtlinge in den Gebäuden und in den fünfziger Jahren Spezialeinheiten der Nationalen Volksarmee. Die Russen hatten versucht, Teile des Komplexes zu sprengen. Doch ohne großen Erfolg. Es sieht aus, als hätte man sechsstöckige Berliner Hinterhoffabrikgebäude auf einer Länge von über vier Kilometern parallel zur Küste verlaufend aneinander gereiht. Von der Seeseite her wird der Anblick zumeist gnädig von einem Wäldchen verdeckt. Auf der Landseite führt eine breite Originalbetonpiste aus der Anfangszeit des tausendjährigen Reichs an der eintönigen Gebäudereihe entlang. Abertausende von Fensterscheiben schauen blind auf einen schmalen Streifen Grün, in dem wir Kleingärten vermuten. An den Ecken der Gebäude hängen schmiedeeiserne Laternen mit zerbrochenen Glasscheiben und Porzellanisolatoren. Es fällt schwer, sich hinter den grauen Mauern, in den gigantischen Treppenhäusern und Küchentrakten, die auf der Landseite der Gebäude liegen, Menschen vorzustellen. Es ist eine vernarbte Wunde aus Beton, die unter Denkmalschutz steht. Zurück in Frankfurt, fällt uns auf, dass das alte IG Farben-Gebäude am Rande des Westends, in dem sich heute Teile der Universität befinden, den gleichen Architekten gehabt haben könnte. Der Grundriß beider Gebäudekomplexe ist fast identisch, nur dass die Front der IG Farben in einem kaum wahrnehmbaren Bogen verläuft, was ihm eine elegante Leichtigkeit verleiht, während in Prora die unverhüllte Brutalität des rechten Winkels die trostlose Korpulenz der Immobilie betont. Auf jeden Fall ist die Ideologie, die beiden Bauwerken zugrunde liegt, die gleiche.

KB: Auf dem Rückweg entdecken wir kurz vor dem Örtchen Karow rechts am Straßenrand eine kleine Raststätte. Ein winziger Raum mit drei Tischen und einer Theke, hinter der eine freundliche ältere Dame mit grauen, selbstgebrannten Löckchen herumhantiert und mit ihrem eher schüchternen Lächeln den Eindruck erweckt, als staune sie immer noch jeden Tag von neuem darüber, es vom popligen Gleich-nach-der-Wende-Imbiß mit Bockwurst und Kartoffelsalat bis zur Raststätte mit hausgemachten Kohlrouladen gebracht zu haben. Und die sehen so appetitlich aus und sind derart preiswert und überhaupt, dass wir uns ärgern, in Binz gerade gegessen zu haben. Auch der Kaffee ist handgefiltert und hervorragend und kostet einen Euro - nicht ein Tässchen, sondern ein ganzer Pott voll. Wir beschließen, an einem der nächsten Tage gewaltigen Hunger und keine Lust zum Kochen zu haben und uns hier bei Muttern den Bauch vollzuschlagen. Warum wir beim Weggehen für teures Geld eine Flasche Schlehenwein kaufen, der, wie wir später auf dem Etikett lesen, in Bayern hergestellt wurde, wird mir ewig ein Rätsel bleiben...

RR: ...mir nicht, da ich den Vorschlag gemacht hatte. Ich war etwas euphorisch oder vielleicht nostalgisch gestimmt und hatte die Vorstellung von etwas ganz Exotischem, was es nur auf Rügen geben konnte - erst das Etikett holte mich in die Realität zurück, da hatten wir aber schon bezahlt...

KB: Bei Lancken-Granitz biegen wir von der Hauptstraße ab und gelangen auf schmaler Straße in prähistorische Landschaft. Ein mit Gras bewachsener Feldweg führt zu einer Ansammlung von Eichen, und wir sehen schon von Weitem: Magischer Ort. Unter den Bäumen ein Großsteingrab, in dem vor 4300 Jahren unsere ackerbauenden und viehzüchtenden Vorfahren ihre Toten begraben haben. Im Umkreis von hundert Metern gibt es mehrere dieser Grabanlagen, manche aus tonnenschweren Steinen bestehend, die so kunstvoll verkeilt sind, dass wir denken, das kann erst vor wenigen Jahren gemacht worden sein. Vor dem Eingang zu einer der Grabstätten liegt ein Strauß vertrockneter Wiesenblumen.

Wir fahren die Straße noch ein paar Kilometer weiter, bis in Neu Reddevitz die Welt zu Ende ist. Das Dorf besteht aus zehn Einfamilienhäusern und einer Bushaltestelle. In fast jedem Haus kann man eine Ferienwohnung oder ein Zimmer mieten. Wir gehen über einen schlammigen und von großen Pfützen bedeckten Feldweg, der leicht ansteigend ins Endlose zu führen scheint, so weit ist der Himmel. Als wir die Kuppe erreicht haben, breitet sich eine stille Boddenlandschaft vor uns aus. Schilfbewachsene Ufer, drei Boote, ein Vogelschrei. Auf einer Landzunge eine komfortable, massiv aus Holz gebaute Datsche. In dem üppigen Garten steht ein älterer Herr am Zaun und wartet neugierig auf unser Näherkommen. Wir fragen ihn, ob wir noch ein paar Schritte bis zum Ufer weitergehen dürfen. Wir dürfen. Er scheint sogar froh zu sein, dass mal jemand vorbei kommt und erzählt uns, dass er hier seit 35 Jahren den Sommer verbringt und dass es immer so still ist und dass man gar nicht mehr weg möchte. Auf dem Weg zum Auto sehen wir noch drei Rehe, einen Fuchs und viele viele Mücken.

Über dem kleinen Hafen und den Wiesen davor liegt abends ein dichter Bodennebel, aus dem nur die Masten der Fischerboote herausschauen. Vorher war sogar kurz die Sonne durchgekommen, doch haben wir um halb acht nur elf Grad, was den Mücken nichts ausmacht. In der Dämmerung gehen wir noch zum Strand, um dem Vollmond zuzuschauen, wie er dem Meer entsteigt.

1
2
3
4
5
6
7
© Klaus Bölling, Frankfurt 2003
 
Unsere Linkempfehlung: Reisespinne
 

separation

Copyright © 2002-2009. Alle Rechte vorbehalten.
WebDesign & WebHosting: nalukkettu consulting

manasvi.de