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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Relzow, Rügen, September 2003

ein Reisebericht

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DO 11.9.03.
Morgens leichter Regen. 13 Grad. In Klein-Zicker sehen wir die Endhaltestelle des Geisterbusses, der abends, meist hell erleuchtet und ohne einen einzigen Fahrgast, am Platz vorbei fährt. Auch tagsüber ist er fast immer leer, und der große Fahrradanhänger transportiert nie ein Fahrrad. Wir beginnen unseren Rundgang am winzigen Hafen, wo nur ein paar rostige Wellblechhütten und zwei Fischerboote darauf hindeuten, dass die kleine Bucht als solcher genutzt wird. Nach rechts geht der Blick über Salzwiesen, auf denen Schafe weiden, zum Bodden. Links zieht sich ein Efeuwäldchen hin, an dessen Rand seltsame struppige Bäume stehen mit Früchten, die wie Äpfel aussehen aber von der Größe her und paarweise am Ast hängend eher an Kirschen erinnern. Später erfahren wir, dass es Wildäpfel sind, die nur noch in diesem Teil des Biosphärenreservats Südost-Rügen wachsen. Da der Weg schlecht ausgeschildert ist, gehen wir, obwohl ein anderer, aber durch eine Barriere versperrter Weg in den Wald hochführt, am Rande des Waldes weiter geradeaus und gelangen nach kurzer Zeit auf einen kaum noch wahrnehmbaren Trampelpfad, der hart am Rande der Klippe etwa zwanzig bis dreißig Meter über dem steinigen Strand entlang führt. Am Ende unseres Rundgangs sehen wir dann auf einer Informationstafel den Verlauf der offiziellen Wanderroute, und die führt durch den Wald. Den Klippenweg hätte man den Leuten, die uns oben auf dem 38 Meter hohen Aussichtspunkt begegnen, auch nicht zumuten können. Außerdem erfahren wir, dass sich bis zur Wende auf dem Gelände rings um den Aussichtspunkt ein sowjetisches Militärlager befand, was eine weitgehende Zerstörung der Landschaft zur Folge hatte. Es dauerte Jahre bis die verseuchte Erde abgetragen war und die ursprüngliche Vegetation sich wieder ausbreiten konnte. Diese Region hat noch eine Besonderheit: Hier fallen im Jahresmittel die geringsten Niederschlagsmengen der ganzen Insel Rügen. Die Trockenheit wird noch durch die Südlage vieler Hänge verstärkt, denn durch die Reflektionen der Sonnenstrahlen an der Wasseroberfläche wird die Sonneneinstrahlung auf die Hänge erhöht. So konnten sich in dieser Kulturlandschaft viele Pflanzenarten ansiedeln, die ihre Heimat eigentlich viel weiter südlich haben. Es herrschen hier also Lebensbedingungen, wie sie für die Steppen Südosteuropas charakteristisch sind... (Aus einer Broschüre der Kurverwaltung Thiessow). Was uns auffällt, sind einige niedrige ‚Silberbäume’, wie wir sie letztes Jahr an der holländischen Küste gesehen hatten. Die Informationstafel verrät uns, dass es Espen sind, die die ganze Steppenvegetation zu überwuchern drohten und deshalb großflächig gerodet werden mußten. Immerhin sind ein paar übriggeblieben, die heute ihre silbrigen Blätter für uns zittern lassen. Auf der Dorpstraat, die zu beiden Seiten von Einfamilienhäusern gesäumt ist, die entweder gleich in Pensionen umgewandelt wurden oder zumindest eine Ferienwohnung oder ein Zimmer vermieten, kaufen wir eine Schale frisch geernteter Birnen, die erst, als wir schon längere Zeit wieder in Frankfurt sind, so weich werden, dass man sie essen kann. Dafür schmecken sie aber auch ganz wunderbar.

Bei Middelhagen biegen wir nach Alt Reddevitz ab, wo sich laut einem schon etwas älteren MERIAN-Heft in einem ausgebauten ‚Niederdeutschen Hallenhaus’ eines der besten Fischrestaurants der Insel befinden soll. Unter dem offenen Hallendach der ehemaligen Scheune, wo wir den Gasthof Kliesow’s Reuse finden, geht es altdeutsch rustikal zu. Wir bestellen einen Teller mit vier verschiedenen Vorspeisen, wovon eine aus dem berühmten Heringssalat besteht, der wirklich sehr gut ist. Noch besser ist das selbstgebraute, sahnige dunkle Bier. (RR: Nicht nur der Heringsalat, auch die anderen Fisch-Vorspeisen sind frisch und köstlich. Es ist übrigens ein Teller für zwei Personen und unser hungriger Magen und Blick melden zunächst Skepsis an, ob wir davon satt werden. Wir werden es und fühlen uns rundherum wohl).

KB: Auf der anderen Seite der Bucht liegt Groß Zicker. Das ganze Örtchen steht unter Denkmalschutz. Rote Backsteinhäuser, von denen kaum eines keine Ferienwohnung anbietet, säumen die Hauptstraße, auf der immer der eine oder andere Tourist unterwegs ist zum Pfarrwitwenhaus. Das ist ein 1720 erbautes Niederdeutsches Hallenhaus, eines der ältesten Wohnhäuser Rügens, in dem die Witwen der Dorfpfarrer wohnten, einmal sogar zwei gleichzeitig. Von 1850 bis 1984 wurde die inzwischen in ein normales Mietshaus umgewandelte Immobilie über vier Generationen von den Mitgliedern einer Familie bewohnt.

RR: Nach gründlicher Renovierung dient es heute als Museum und beherbergt kleinere Ausstellungen. Eine runde, freundliche Dame fragt nach unseren Kurkarten und der Eintritt ermäßigt sich von 1,25 € auf 1,00 € ! Wir erfahren, dass das Haus ehemals ein Rauchhaus war also keinen Schornstein besaß, dann schlendern wir durch die teilweise winzigen, schiefen Räume, bewundern die gute Stube und die schwarzgeräucherte Küche und werfen auch einen Blick in die ehemaligen Hühner- und Kuhställe, die selbstverständlich in das Haus integriert sind. Nebenbei betrachten wir die ausgestellten Gemälde, von denen wir uns keines kaufen möchten, und die zum Verkauf angebotenen Keramik-Waren finde sogar ich scheußlich.

KB: Die gute Stube ist der einzige Raum mit einem Holzfußboden. Hier wie in den übrigen Räumen muss ich aufpassen, dass ich mit den Haarspitzen nicht die Decke abbürste. Sorglos wie ich bin, fege ich dafür mit meinen Jackenärmeln das Weiß von den Wänden. Die sind auf altdeutsche Art gekalkt, und nachdem wir den Rundgang beendet haben, muss ich eine weiße Staubwolke aus meiner Regenjacke klopfen. Vor dem Haus bewundern wir den von einem schiefen Holzzaun eingefaßten, bäuerlichen Garten, in dem es bunt und wild durcheinander blüht. Die kleine Kirche am Ortseingang mit dem alten Friedhof drumherum betrachten wir heute nur flüchtig - mit dem Vorsatz, noch mal wiederzukommen.

Als wir vor der Camping Oase stehen, ist es halb Drei, und bis drei Uhr ist alles dicht. Wir sind sauer. Die heilige Kuh Mittagsruhe steht träge widerkäuend auf der anderen Seite der Barriere und glotzt uns an. In einem Leserbrief an die OZ hatten wir gestern von den Erfahrungen eines Kurgastes aus Süddeutschland gelesen. Der war nach langer Fahrt mit dem Auto gegen 14 Uhr in Binz angekommen, wo er Zimmer incl. Parkplatz gebucht hatte. Aber bis 15 Uhr herrschte in seiner Pension die heilige Mittagsruhe. Nachdem er ein paar Runden durch den von Autos und Tagestouristen überfüllten Ort gedreht hatte, stellte er schließlich sein Auto entnervt irgendwo in der Nähe der Pension ab und kassierte prompt, als kleine Aufmerksamkeit der Kurverwaltung, ein saftiges Knöllchen...

Den Abend verbringen wir auf 70k. Der Geisterbus hat heute die Innenbeleuchtung ausgeschaltet. Vor der Tür des Caravans der holländischen Nachbarn ist eine kleine Hebebühne installiert, die die Frau samt Rollstuhl nach oben hievt. Ein VW-Bus mit einem asketisch wirkenden Paar um die Mitte sechzig kommt an. Beide sehen aus, als trügen sie Birkenstocksandalen und ernährten sich hauptsächlich von Hühnerfutter und freilaufenden Eiern. Anyway, ihr Bus ist genau das Gefährt, das wir uns für gebrechlichere Zeiten erträumen. Vor einer am Nachmittag neu angekommenen rollenden Wohnhöhle versucht der einem Neanderthaler nicht unähnliche Bewohner seine Säbelzahntigerwürstchen zu grillen. Als zu hohe Flammen aus dem Grilltopf lodern, kippt er Wasser drauf und produziert heftige Rauchzeichen, die seine gesamte Nachbarschaft einnebeln und gegen ihn aufbringen. Vorm Klo, von wo man aus sicherer Entfernung interessiert sein Treiben beobachtet, boshafte Kommentare: Ist der bekloppt...?

Pünktlich um 20 Uhr 14 sind wir am Strand, um den Mondaufgang zu sehen. Doch der findet wegen zu vieler Wolken leider nicht statt.

FR 12.9.03.
RR: Bedeckt, 15 Grad. Auf der Toilette gibt es ein großes Gesprächsthema: Mücken. Hier erfahre ich, dass Rügen bekannt sei für seine Mückenplage. Eine Frau erzählt mir, sie sei schon vorgewarnt worden, sie solle auf jeden Fall Mückennetze mitnehmen. Als ich in Frankfurt den Kollegen Thomas, der uns den Thiessow-Tip gegeben hatte, zur Rede stelle, bekommt er ganz runde Augen und versichert glaubhaft, sie hätten kaum eine Mücke gesehen.

KB: Wir parken das Auto am östlichen Stadtrand von Sassnitz. Durch einen lichten Buchenwald, dessen Boden manchmal kreidig grau durchs Laub schimmert, erreichen wir nach schweißtreibendem Marsch den Höhenuferweg. Unten liegt milchig grün die Ostsee. Die Menschen auf dem schmalen Steinstrand am Fuße der Kreideklippen sehen sehr klein aus. Wir schätzen die Höhe auf achtzig bis hundert Meter. Der Weg folgt dem meist sanften Auf und Ab des Klippenrandes. Nur manchmal führen hölzerne Treppen in tief eingeschnittene, modrig feuchte Schluchten hinab und auf der anderen Seite leider wieder hinauf. Verwitterte Wegmarkierungen deuten darauf hin, dass zu DDR-Zeiten die Besucher diese Schluchten sowie größere Steigungen noch auf Zickzackpfaden überwinden mußten. Das größte zusammenhängende Buchenwaldgebiet an der gesamten Ostseeküste ist seit 1990 Nationalpark. Touristisches Highlight ist der in Japan wie in der bayerischen Provinz bekannte Königstuhl. Ein flüchtiger Blick in den Reiseführer hat es uns nicht schwer gemacht, auf einen direkten Besuch der touristischen Kultstätte zu verzichten, zumal die Wissower Klinken, eine nur geringfügig kleinere Ausführung des Originals, die Caspar David Friedrich zum Glück nicht auf Leinwand verewigte, ohne großen Rummel zu Fuß erreichbar sein sollen. Sie sind unser Wanderziel heute. Obwohl wir viel zu warm angezogen sind und der Schweiß in kleinen Bächlein an den Innenwänden der Regenjacken hinab rinnt, schleppen wir uns tapfer zwei Stunden lang von einem atemberaubenden Ausblick zum nächsten, sehen in der grünen Weite spielzeugkleine Ausflugsboote ihre Bahn ziehen und erkennen, auch wenn die See von hier oben spiegelglatt erscheint, an dem erbärmlichen Schwanken der Butterkähne, dass das eine Täuschung ist und wünschen allen an Bord, die nicht zu Fuß sich schinden müssen, ein fröhliches Kotzen. Schließlich, als uns die Zunge nach knapp zwei Stunden bis zur Gürtellinie hängt und wir gerade beschlossen haben, nach der nächsten Steigung kehren wir um, zumal wir nicht sicher sind, ob wir am Ziel schon vorbeigelaufen sind, erreicht uns auf Nachfrage die fröhliche Kunde, dass die Wissower Klinken noch vor uns liegen und nach der nächsten Biegung des Pfades auftauchen werden. In der Tat: sie sind nicht zu verfehlen, denn sie haben es sogar zu einem Messingschildchen auf der Holzbarriere gebracht. Die beiden spitz zulaufenden Kreidefelsen sind von der Erosion der Jahrtausende zu Gebilden geformt worden, die an ein schartiges Sägemesser mit stumpfen Zähnen erinnern. Nachdem wir uns vom Naturgenuß ein wenig erholt haben, bewältigen wir den Rückweg in anderthalb Stunden. Auf dem Parkplatz guckt ein Reh aus dem Gebüsch und schaut zu, wie wir uns die schweißnassen Haare frottieren, in kurze Hosen schlüpfen und den Pullover gegen ein leichtes T-Shirt tauschen.

Am frühen Nachmittag sind wir wieder auf 70k, wo die Ossi-Nachbarn Wochenendbesuch aus MST bekommen haben. Wie sich das gehört, wird später der Grill angeschmissen und Bier getrunken. Doch zum Glück treiben die Mücken sie bald hinter ihre Butzenscheiben, und wir haben den ganzen Abend den Platz einschließlich Mücken für uns allein. Der Mond versteckt sich leider hinter Wolkenmassen. Am späten Abend kommen noch zwei junge Männer und ein Mädel aus HB und bauen im Scheinwerferlicht ein riesiges Iglu auf.

SA 13.9.03. Morgens ist es bedeckt, 16 Grad. Laut OZ ist kein Regen zu erwarten.

Im NETTO-Supermarkt in Lobbe kaufen wir tiefgefrorenen Lachs aus Alaska. Danach spielen wir eine Runde Boule am Strand und versuchen Mücken totzuschmeißen. Die Viecher sind jetzt überall. Nachmittags machen wir eine Strandwanderung in Richtung Klein Zicker. Mückenschwärme folgen uns, obwohl wir aus lauter Verzweiflung mit einem Fuß im Wasser gehen, in der Hoffnung, dass sie sich so nah am Meer nicht wohlfühlen. Doch die fühlen sich überall wohl. Hauptsache wir sind bei ihnen. Wir nähern uns einer wenige Meter vom Strand entfernten Bank, auf der eine gebrechliche alte Dame sitzt, die das tut, was wir auch gern möchten, uns einen Moment vom Kampf mit den Mücken ausruhen. Doch hier schwirren die Landmücken in solch dicken schwarzen Sprechblasen um unsere schattenhaften Gestalten, dass wir uns schnell wieder ins Gebiet der Meermücken flüchten. Über einen kleinen Höhenzug, wo seltene Pflanzen wachsen sollen, von denen wir leider nichts mitkriegen, da sie von Mückenschwärmen bedeckt sind, quälen wir uns zurück nach Thiessow.

Auf dem Platz haben wir neue Nachbarn bekommen. Zwei Jungwanderer hocken erschöpft im Gras vor ihrer Hundehütte, knabbern Kekse und versuchen, auf einem winzigen Spirituskocher eine Tütensuppe warm zu machen, wobei sie sich gelegentlich gereizt anzischen. Die Ossi-Nachbarn haben vormittags begonnen, ihr Vorzelt abzubauen. (RR: Es wird selbstverständlich gründlich gewaschen.) Unsere hoffnungsvollen Blicke begleiten sie bei ihren Verrichtungen, die unter anderem auch einen Elektroradiator zum Vorschein bringen. Während dieser von Mückenschwärmen umkreist wird, sitzen sie mit ihren Freunden unter freiem Himmel und trinken Bier. Wahrscheinlich werden sie Morgen abreisen. Da es heute Abend sehr schnell feucht wird, sitzen wir bald wieder allein unterm Himmel und die Mücken können sich ganz auf uns konzentrieren.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2003
 
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