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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Relzow, Rügen, September 2003

ein Reisebericht

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SO 14.9.03.
Alles ist feucht. Für einen Moment kommt die Sonne durch. Danach bezieht sich der Himmel. Noch im Zelt hören wir geschäftiges Treiben um uns herum. Als wir ins Freie kriechen, wird gerade das Riesenwohnklo per Hand rangiert, um mit der Zugmaschine verkuppelt zu werden. Die beiden Wanderjünglinge sitzen, Butterkekse knabbernd, schlechtgelaunt vor ihrem Zelt und giften sich halblaut an. Die Bremer sehen auch nicht sehr glücklich aus, während sie ihr riesiges Zelt abbauen. Die Wochenend-Ménage à trois hatte wohl nicht so hingehauen. Nach einer halben Stunde haben wir viel freien Raum um uns und die Mücken ganz für uns allein. Alle von Textilien nicht bedeckten Körperteile müssen wir, sofort nachdem wir ins Freie gekrochen sind, anstatt mit Sonnenöl mit Mückenspray bearbeiten. Wir glänzen wie die Speckschwarten und stinken wie eine blakende Petroleumlampe. Das sauteure Zeug aus der Apotheke ist wahrscheinlich nichts anderes als mit ein paar Duftstoffen verschnittenes Petroleum. Da wir keine Lust haben, für Mückenspray unser Geld in die Apotheke zu tragen, gehe ich kurz zum SPAR-Laden, um zu sehen, wie dort das Angebot ist. Schon von weitem sehe ich eine Frau vorm Laden stehen, die sich hektisch mit Mückenspray einnebelt. Im Laden ein Extraregal, vollgepackt mit allem, was man braucht, um in dieser Mückenhölle zu überleben. Auf meine Frage, ob das hier immer so krass ist, murmelt die Kassiererin nur resigniert, dass es heute besonders schlimm ist. Es hört sich an, als sage sie das seit Wochen jeden Tag.

RR: Direkt vor unserem Fliegengitter am Zelteingang tummeln sich ca. zwei Millionen Mücken, sie lauern darauf, dass endlich der Reißverschluss geöffnet wird, damit sie unser Schlafzimmer inspizieren können. In KB’s Augen glitzert nur noch Mordlust. Also fahre ich noch einmal zum SPAR-Laden und erwerbe eine große Flasche Insektenspray, mit dem wir, hasserfüllte Laute ausstoßend, ungefähr 1.985.789 Mücken niedermachen. Um 11.00 Uhr kommt die Sonne durch, wir steigen in kurze Hosen und genießen die zwei bis drei Mittagsstunden, in denen ein Teil der Mücken im Schatten Siesta hält.

KB: Nachmittags machen wir uns auf zum Strand, um eine Runde Boule zu spielen. Beim Durchqueren des Kiefernwäldchens, das zwischen Strand und Campingplatz liegt, stürzen sich erbarmungslos diverse Mückenschwärme auf uns. Das wäre weiter nicht schlimm, da alle nicht mit Autan getränkten Körperstellen von den dicksten Winterklamotten, die wir mit uns führen, bedeckt sind. Doch die Mücken, die unendlich mehr Mäuler stopfen müssen, als Menschenmaterial zur Verfügung steht, das sie als Nahrungsquelle anzapfen können, sind gewitzt und benutzen unsere dicken Textilien als bequemes Transportmittel, mit dem sie sich als blinde Passagiere an den sonst wohl eher mückenfreien Strand befördern lassen. So hat jeder wild mit den Armen fuchtelnde Badegast auch am Strand seinen eigenen, ihm treu ergebenen Mückenschwarm um sich. Ich habe heute zum erstenmal einen Campingstuhl mitgenommen. Auf ihm sitzend kann ich mich ganz entspannt, ohne dass der Rücken auseinanderzubrechen droht, der Unendlichkeit des blauen Spätsommertages hingeben. Ich bin begeistert, und die Mücken können mich mal. Es verspricht ein Badeurlaub zu werden, wie man ihn von alten Postkarten kennt.

RR: Als KB seinen Stuhl schultert, lächele ich ein wenig herablassend. Ich fühle mich noch nicht als beginnende Seniorin und lehne es ab, für mich auch einen gar nicht so leichten Stuhl mitzunehmen.

KB: Gegen Abend wird es sehr feucht. Da wir die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben haben, den Mond aufgehen zu sehen, greifen wir eine Flasche Rotwein, eine Taschenlampe, die Nikon sowie unsere Klappstühle, die ich mir stillschweigend über die Schulter hänge und machen uns auf zum Strand. In der milchigen Abenddämmerung gehen Himmel und Meer fast nahtlos ineinander über. Eine große Sternschnuppe mit Schweif zeichnet ein weiß verglühendes Ausrufezeichen mit einem Punkt von der Größe eines Tennisballs an den Himmel. Vom offenen Meer her schwebt ein rostiger Frachter wie ein Geisterschiff durch die diffuse Lautlosigkeit des Abends dem Strelasund und dem Stralsunder Hafen entgegen. Aus der Gegenrichtung hält ein Schnellboot auf ihn zu. Da es kurz beidreht und dann wieder mit hoher Bugwelle dahin zurückkehrt, wo es hergekommen ist, nehmen wir an, dass es den Lotsen an Bord gebracht hat. Alles geschieht wie in einem Stummfilm, kein Motorengeräusch stört die Abendidylle. Die Maschine Welt ist gut geölt. Als der Frachter aus unserem Blickfeld verschwunden ist, kreuzt die Venus mit einem zarten Lichtstrahl sein Kielwasser. Es ist genau 20 Uhr 44, als der Mond aufgeht. Millimeter für Millimeter arbeitet er sich über den Horizont. Er hat die Farbe einer Blutorange und sieht schon ziemlich krumm aus. Doch sein Strahl, den er übers kaum bewegte Wasser schickt, trifft uns mitten ins Herz. Auf den Fotos, die wir frei Hand aufgenommen haben, irrlichtert er wie ein seltsamer, rotgolden glänzender Wurm durchs Weltall.

RR: An diesem Abend überredet KB mich mit seinem großzügigen Angebot, beide Stühle zu schultern, am Strand auch auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Ich denke, wenn schon ein Stuhl, dann auch ein Glas für den Wein, das wiederum lehnt KB kategorisch ab: „Wein am Strand trinke ich nur aus der Flasche!“, was ich wiederum albern finde. (KB: Wenn schon Glas, dann hätte ich auch einen Tisch für das Glas mitnehmen müssen.) Um allem die Krone aufzusetzen, klemmt er sich auch noch die Sitzkissen unter den Arm. Offensichtlich nähern wir uns beide dem Altersstarrsinn... Die abendliche Stille mag auch der Wind nicht stören und so sitzen wir friedlich, mit der linken Hand gleichmäßig wedelnd, in der rechten Glas oder Flasche und schauen auf das, was wir nie vergessen werden. Obwohl wir meinen, dass nach halb neun keine Mücken mehr da waren, habe ich, kurz bevor wir gehen wollen, plötzlich das Gefühl, skalpiert zu werden. Offenbar eine allergische Reaktion, und eine dicke Beule breitet sich auf meinem Kopf aus. Zum ersten Mal bedauere ich, dass ich keine dicken langen Haare mehr habe, durch die keine Mücke sich durchwühlen kann, um mich zu stechen.

MO 15.9.03.
KB: Morgens um acht Uhr zwölf Grad. Es ist feucht, der Wind kommt aus Südwest. Die Sonne hat einige Milliarden Mücken, deren Larven in den feuchten Wiesen deponiert waren, wachgeküßt. Um nicht völlig vom Gefühl der Ohnmacht überwältigt zu werden, nähere ich mich mit dem Wind einem Schwarm, der in einem Sonnenfleck hektisch seinen Begattungzeremonien nachgeht, und feuere mehrere Ladungen Insektenspray in die Meute. Der Erfolg scheint für einen Moment offensichtlich, doch erinnert das Ganze an einen Versuch, das Meer mit einer Blechbüchse auszuschöpfen. Ich werde einige Hundert erwischt haben, die von einigen Zehntausend ersetzt werden. Der Gasherd, auf dem wir gerade das Wasser für unseren Morgentee kochen, killt erfreulich nachprüfbar ein gutes Dutzend.

Eine milde Sonne scheint vom babyblauen Himmel auf uns herab. Kein Sight-Seeing heute. Sommerfrische! Vor meinem geistigen Auge sehe ich, unter einem großen Strohhut verborgen, Thomas Mann am Strand von Hiddensee sitzen und versonnen seine Sockenhalter betrachten. Aus unerfindlichen Gründen gibt es heute keine einzige Mücke. Hin und wieder klatscht eine träge Welle an den Strand. Die Welt duftet nach Sonnenöl und die Fersen graben rieselnde Kuhlen in den Sand. Leise sagen wir zum Augenblick Verweile doch; aber er hört uns nicht. Als wir am späten Nachmittag zurück zum Platz gehen, um etwas zu essen, fallen zwei Milliarden Mücken, die heute geschlüpft sind, über uns her. Wir verpassen uns hurtig einen neuen Anstrich aus Mückenspray, doch so schnell, wie die ausgehungerten Biester stechen, können wir gar nicht arbeiten. Deshalb greifen wir uns gegen halb acht wieder die Stühle und eine Pulle Wein und ein Glas und hetzen zum hoffentlich immer noch mückenfreien Strand. Doch hier scheint sich das Kleinklima innerhalb kurzer Zeit gehörig verändert zu haben. Es schwirrt von ausgeruhten und ausgehungerten Mücken. Da es völlig windstill ist, sind sie besonders angriffslustig und schaffen es fast, uns den Blick auf Himmel und Meer zu vermiesen. Es ist sehr dunstig, und der Horizont ist kaum auszumachen. Nur an dem Segelschiff, das lautlos im vermeintlich konturenlosen Raum zu schweben scheint, können wir ungefähr erkennen, wo er verläuft. Eine Ente, die sich im Vordergrund auf dem stillen Wasser wiegt, sorgt dafür, dass die räumliche Dimension nicht ganz verloren geht. Zurück auf dem Platz ist es drückend. Kein Lüftchen weht. In unseren dicksten Klamotten still vor uns hinschwitzend, stellen wir uns zum ersten mal laut die Frage, warum wir nicht schon längst abgereist sind.

DI 16.9.03.
Morgens ist es kühl und windig. Der Himmel ist bedeckt. Über uns im Baum hämmert ein Specht. Es gibt nur wenige Mücken.

Erst fahren wir nach Baabe zum LIDL einkaufen. Dann kaufen wir in der Fischräucherei am Hafen einen Aal und ein Stück Heilbutt. Wir müssen längere Zeit warten, bis der junge Mann, der die Verfügungsgewalt über Waage und Kasse hat, erscheint, da er als Nebenjob noch die Schiffshebeeinrichtung, die gerade eine ausgewachsene Yacht am Haken hat, bedienen muss. Währenddessen werden wir von einem Hiwi, der vor der Räucherhalle in der Sonne sitzt, in schönstem Rügener Platt vertröstet, dass der Kollege bald kommen müßte. Was er irgendwann auch tut und sich freundlich lachend, ehe er seine Verkaufstätigkeit aufnimmt, erstmal die ölverschmierten Hände wäscht, was alle, die auf ihn warten, zu schätzen wissen. Den Heilbutt und einen halben Aal verzehren wir gleich zum zweiten Frühstück, ehe wir uns zum Strand aufmachen, wo es heute keine Mücken gibt. Wahrscheinlich haben sie unsere mehr rhetorisch gemeinte Frage von gestern Abend ernst genommen, oder die Kurverwaltung hat sie zurückgepfiffen. Wahrscheinlicher ist, dass sie den leichten Wind nicht mögen, der die spätsommerlich milde Sonne wohldosiert über den Strand verteilt. Auch auf dem Platz, wo wir gebratenen Thunfisch und italienisches Gemüse essen, ist es angenehm, im Schatten zu sitzen und sich darüber zu freuen, dass die Mücken heute sehr zurückhaltend sind. Mit wie wenig sind wir doch zufrieden! Nachmittags eine Runde Boule am Strand, bis die Sonne hinter den Wipfeln der Kiefern verschwunden ist. Die Ostsee versucht sich als Mittelmeer und hat damit großen Erfolg bei uns. Alles in allem ein Tag, dessen samtige Heiterkeit selbst die Mücken zu rastloser Untätigkeit verdammt. Abends im Deutschlandfunk ein Feature über Vigoleis Thelen, der heute seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte. Damit hat auch der Kopf - nachdem der Bauch überdurchschnittlich gut versorgt war - sein Betthupferl bekommen, und wir sind mit dem heutigen Tag sehr zufrieden.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2003
 
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