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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Venedig, Mai 2007

ein Reisebericht

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Da wir nach 8 Stunden Stress zu aufgedreht waren, um uns aufs Bett legen und entspannen zu können, mussten wir weg von hier, um irgendwo einen schattigen, ruhigen Ort zu finden, wo man sich bei einem eiskalten Prosecco bequem zurück lehnen und die Beine von sich strecken konnte. Der junge Mann am Empfang meinte, Dolo habe ein kleines historisches Zentrum und sei etwa 2 Kilometer entfernt. Und er riet uns entschieden, den Bus zu nehmen. Was natürlich unter unserer Würde war. So sah man uns also am Straßenrand entlang schleichen, wo der Fahrtwind der vorbeirasenden Autos unsere von einer gnadenlosen Sonne aufgeheizten Köpfe nur unwesentlich kühlte. Als Ziel hatten wir eine ungefähr 500 Meter entfernte Brücke vor Augen. Wir nahmen an, dass es auf der anderen Seite der Brenta ruhiger sein würde.

Das war es auch, doch der erhoffte Uferweg endete nach ein paar Schritten in undurchdringlichem Gestrüpp, so dass wir gezwungen waren, auf einer Landstraße weiter zu marschieren, die zwar kaum befahren war, sich aber in einem weiten Bogen vom Ufer der Brenta entfernte. Wir konnten nur hoffen, dass sie nach Dolo hineinführte. Die Sonne war fast senkrecht über uns. Die vereinzelt am Straßenrand stehenden, mageren Bäume waren als Schattenspender untauglich. Auch die Sandalen, die ich an den Füßen trug, erwiesen sich für diesen Marsch als extrem ungeeignet. Nachdem wir ein ländliches Wohngebiet durchwandert hatten, wo als einziges Lebewesen ein Hund, die Schnauze auf den Vorderpfoten, aus einem Vorgarten heraus mit trägen Augen unseren Schritten folgte, sahen wir nach einer Kurve endlich das Ortsschild von Dolo. In der Ferne, offensichtlich auf der anderen Seite der Brenta, ragte ein mächtiger Campanile in den Himmel. Geschätzte Entfernung: zwei Kilometer Luftlinie. Da mussten wir hin. Dort würde es Schatten geben, Essen und Trinken und vor allem den Bus zurück zur Villa Gasparini. Die Straße führte jetzt wieder zum Flussufer, wo etliche Betonsockel, die ehemals das Fundament für Bänke gewesen sein mochten, zur Rast einluden. Wir tranken einen Schluck Wasser aus der mitgeschleppten Plastikflasche, schauten aufs grüne Wasser der Brenta und kamen uns unendlich bescheuert vor.

Obwohl uns die etwa 300 Meter entfernte Brücke schier unerreichbar schien, setzten wir mit stoischer Gelassenheit einen Fuß vor den anderen, versprach sie doch den Übergang ins gelobte Land des tosenden Verkehrs und damit das Vorhandensein einer Bushaltestelle. Nachdem wir, am anderen Ufer angelangt, menschenleere, doch einigermaßen schattige Gässchen durchschritten hatten, gelangten wir schließlich auf einen ausgedehnten, länglichen Platz, den die SR 11 (ich nehme an Strada regionale) in zwei Hälften teilte. Hunger und Durst waren uns inzwischen abhanden gekommen, so dass es nicht allzu schwer war, das Nichtvorhandensein geeigneter und vor allem geöffneter Kneipen hinzunehmen. Nur gegenüber der Bushaltestelle gab es eine Trattoria, die aber nicht sehr einladend aussah. Wir machten ein paar Schritte in ein Seitengässchen, fotografierten brav den Campanile, der weder besonders schön noch schief war und gingen zurück zur Trattoria. Ein hölzernes Podest vor der Kneipe war halb in die Straße hineingebaut. Dort standen ein paar Tische und Stühle, und man konnte rauchen. Nach oben und zur Straße hin war das Podest mit schwarzen Plastikplanen verhängt, was ihm den Charme einer Baustelle verlieh aber den nicht zu unterschätzenden Vorteil hatte, Schatten zu spenden. Einige Tische weiter saßen ein paar Arbeitslose, tranken Bier und zeigten beim Lachen ihre schlechten Zähne.

Nachdem wir uns bei einem Mineralwasser ein bisschen erholt hatten, fragte ich die Asiatin hinter der Theke, wo man hier Tickets für den Bus kaufen könne. Sie zeigte mit dem Arm in die Richtung aus der wir gekommen waren. Wir tippten auf den Tabakladen ein paar Schritte weiter, doch der war geschlossen. Schließlich radebrechte ich einen älteren Mann mit meinem Belcantoitalienisch an, der radebrechte zahnlos doch freudestrahlend zurück: Du Deutsch? Scheiße, dachte ich, jetzt kommt die Geschichte, wie er bei Opel in Rüsselsheim malocht hat, das wär’s dann, doch wir blieben verschont, denn seine Kenntnis der deutschen Sprache schien über Dudeutsch doch nicht hinaus zu gehen. Er zeigte uns den vier Schritte entfernten Laden, an dem wir schon zweimal vorbeigelaufen waren, ohne zu bemerken, dass er auf den Verkauf von Busfahrkarten spezialisiert war. Auf einem Zettel an der Tür stand zwar, dass der Laden von 6 bis 20 Uhr durchgehend geöffnet war, doch der Laden war leer und die Tür verschlossen. Nach etwa fünf Minuten kam ein mürrisch aussehender Mensch, schloss die Tür auf, begab sich hinter die Glasscheibe, setzte eine amtliche Mine auf und verkaufte uns für je 95 Cents zwei Fahrkarten nach Cesare Musatti.

Dort gab es schräg gegenüber dem Hotel eine Tabak-Bar. Der Inhaber versuchte gerade, mit einem Kanten Weißbrot eine Entenfamilie samt ihrer niedlichen Brut, die dabei war, in Richtung Theke zu watscheln, zur Böschung der Brenta zurückzulocken. Wir kauften 2 Sandwichs, Bier und Cappuccino und setzten uns unter einen Sonnenschirm neben das Haus, wo es zwar genau so laut war, wie auf der Terrasse des Hotels, aber wenigstens hatte man den die Nerven beruhigenden Blick auf den Fluss. Doch auch hier konnte man sich nicht länger aufhalten. Eigentlich hatten wir vorgehabt, heute nur die nähere Umgebung zu erkunden, eventuell einen Supermarkt zu finden, wo wir Käse und Wein kaufen konnten, doch das war alles gründlich misslungen, und nach einer Fortsetzung in die andere Richtung, also Mira, stand uns nicht der Sinn. Auch nicht nach Besichtigung der palastähnlichen, ehemaligen Sommerresidenzen des reichen venezianischen Adels, die wie „auf einer Perlenschnur aufgereiht“ an der Riviera del Brenta lagen. Namen wie Villa Widmann oder Villa Pisani vermochten uns nicht zu locken, hatten wir doch an unserer Villa Gasparini vollauf genug. Da es erst halb vier Uhr nachmittags war, beschlossen wir, mit dem nächsten Bus nach Venedig zu fahren. Während der Fahrt konnten wir uns ausruhen, und in Venedig, so nahmen wir an, würden wir all das finden, was wir hier vergeblich gesucht hatten. Nach 35 Minuten, das war die normale Fahrtzeit ohne Stau und Baustelle, standen wir wieder auf der Piazzale Roma, wo wir als erstes ein 72-Stunden Ticket für den Vaporetto kauften, um uns dann der Seite des Platzes zuzuwenden, wo das eigentliche Venedig beginnen musste.

Ein paar Schritte unterhalb der Souvenirbuden der Piazzale Roma sitzen im Schatten eines hölzernen Kiosks gelangweilte Gondolieri in der Abendsonne und warten auf Kundschaft. Ein weißes Brückchen führt über einen schmalen Kanal, der linkerhand offensichtlich in den Canal Grande mündet. Ein schmiedeeisernes Tor, eine winzige Parkanlage, dann wieder ein Brückchen mit zierlichem Eisengeländer, wir biegen um eine Ecke und halten den Atem an.

Fondamenta Minotto lesen wir an einer Hauswand. Wir sehen einen Kanal, wie es ihn wohl zu Dutzenden in Venedig gibt. Ein- bis zweistöckige Häuser mit vernarbten Fassaden, grüne und blaue Fensterläden, kaum ein rechter Winkel, Schmiedeeisernes, abbröckelnder Putz, ein rosa Schornstein gegen den Abendhimmel, im Hintergrund, wo der Kanal zu enden scheint, doch wir ahnen, hier endet nie etwas, eine Andeutung von weißen Spitzbögen, in die eine gemauerte Brücke hineinragt. Später in Frankfurt, als ich mir aufmerksam das Foto dieser abendlichen Szenerie betrachte, stelle ich fest: Jedes Detail für sich genommen ist banal, wenn nicht gar hässlich, doch alle Details als Ganzes gesehen sind von einer Schönheit, die das Herz gleichzeitig schwer und leicht macht. Liegt darin das Geheimnis Venedigs, dass seine Schönheit aus lauter kleinen Hässlichkeiten besteht?

Wir kommen uns vor wie Statisten in einer zerbrechlichen Theaterkulisse. Wenn nicht gerade ein Motorkahn unten auf dem Kanal vorbeituckert, hören wir nur unsere eigenen Schritte und die der paar Rucksacktouristen auf der anderen Kanalseite, wo offensichtlich der Haupttrampelpfad nach Rialto und San Marco verläuft.

Meine Körperlichkeit scheint geschrumpft zu sein. Ich bestehe nur noch aus Augen und Ohren. Alle Müdigkeit des Tages, der sich in einer anderen Welt abgespielt hat, ist verschwunden. Ich weiß, diese halbe Stunde, da mir träumte, ich ginge in Venedig an einem Kanal entlang, werde ich nie in meinem Leben vergessen. Ich fühle mich wie frisch verliebt, und es ist Liebe auf den ersten Blick, wenn es so etwas bei einer Stadt gibt. Und ich weiß in einem Winkel meines Kopfes, ich habe mich in eine bejahrte Hure verliebt, die immer die Maitresse der jeweils Herrschenden war und ist und sein wird…

Nach wenigen traumwandlerischen Schritten biegen wir um eine Ecke, und eine ganz andere Perspektive öffnet sich. Ein winziger Campo, ein unscheinbares Kirchenportal, grau und gebeugt vom Alter. Der Seitenkanal verbreitert sich zu einem Bassin, um dann am Ende als schmaler Kanal in einen anderen Kanal, den wir nicht sehen können, zu münden. Auf den Stufen des Kirchenportals sitzen einige jüngere und ältere Frauen mit Malblöcken auf den Knien. Es herrscht eine konzentrierte Stille, die wir vorsichtig durchschreiten bis zu der Stelle, wo der schmale Kanal in den breiteren Rio Nuovo mündet. Die Calle endet hier. Eine glatte Steintreppe führt ins milchig grüne Wasser hinab. Wir setzen uns, schauen auf eine unverputzte, rote Ziegelmauer, hinter der sich einer der in Venedig so raren Gärten befinden muss, denn es rankt sich Grünzeug über die Mauer bis zum Wasser hinab. Wir schauen auf geschlossene Fensterläden, die Fenster im Erdgeschoß sind kunstvoll vergittert, eine grüne Holztür reicht mit der Unterkante fast bis zum Wasserspiegel. Über dem Türsturz der steinerne, vom Alter geschwärzte Kopf eines Dämons. Die von Schimmel, der salzhaltigen Luft, der Feuchtigkeit und nicht zuletzt von den Industrieausdünstungen des Festlands zerfressene Außenmauer des Gebäudes zur Linken wäre in jeder anderen Stadt ein Anlass für baupolizeiliche Maßnahmen. Säumten derart räudige Mauern einen Kanal in Alkmaar oder Delft, der Besucher würde die Hände überm Kopf zusammenschlagen. Warum nicht in Venedig? Liegt es an dem filigranen Brückchen, das sich im Bildhintergrund elegant über den Kanal wölbt, oder an der blutfarbenen Fassade eines anderen Gebäudes, dessen Dachkonstruktion so verwinkelt ist, dass es an eine Pagode erinnert, oder an der Wäsche, die sich auf einer Leine über den Kanal spannt, oder an den Fernsehantennen auf den altrosa Dächern oder den Motorkähnen, die an den Hauswänden vertäut sind? Oder liegt es einfach am Wasser, dessen Gelassenheit sich auf Menschen und Dinge überträgt und sie dadurch schöner macht, als sie in Wahrheit sind?

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2007
 
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