deutsche Version

manasvi.com/manasvi.de
Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
©
Webmail
Rechtshinweis
Feedback
 
 

Venedig, Mai 2007

ein Reisebericht

1
2
3
4
5
6
7
8
9

Von irgendwoher hören wir die Klänge eines Akkordeons. Sie scheinen von der Seite des Kanals zu kommen, die wir nicht einsehen können. Ich klammere mich an einen Mauervorsprung und versuche um die Ecke zu schauen. Ein wollüstiges Erschrecken lässt mich fast ins Wasser fallen, denn eine ganze Armada schwarzer Gondeln rudert auf unseren Ort stiller Kontemplation zu. Mit elegantem Hüftschwung (RR: KB schaffte es gerade so, nicht ins Wasser zu fallen…) schwinge ich mich zurück auf das Treppchen und mache die Nikon klar. Die Musik wird lauter und einen Augenblick später schiebt sich der Bug einer Gondel ins Bild. Offenbar lassen sich die Teilnehmer eines Betriebsausflugs, auf mehrere Gondeln verteilt, durch die Kanäle schippern. In der einen Hand das Proseccoglas in der anderen die Digitalkamera, so treiben sie, albern wie pubertierende Halbwüchsige auf Klassenfahrt, an unserem bemoosten Treppchen vorbei. Sie fotografieren uns, wir fotografieren sie. In der mittleren Gondel sitzt ein Mensch mit einem Akkordeon, dem er nicht sehr saubere Töne entlockt. An seiner Seite steht ein kompakter Mann mittleren Alters mit Sonnenbrille, der mit öliger Bierstimme einen albernen italienischen Schlager krächzt. Alles in allem, eine Begegnung der eher peinlichen Art. Dabei fällt uns die Geschichte von Mark Twain ein, der ein sehr kritischer Bewunderer Venedigs war. Als der Gondoliere, der ihn durch einsame abendliche Kanäle ruderte, zu singen begann, hatte Twain ihn angefahren: Du hörst sofort auf damit, oder einer von uns muss ins Wasser…

Wir gehen ein paar Schritte zurück und erreichen über ein weißes Brückchen den Haupttrampelpfad in Richtung Rialto, San Marco. Eigentlich hatten wir vorgehabt, erst morgen Vormittag der Piazza, der Piazetta, und dem Sestiere San Marco einen kurzen Besuch abzustatten, doch wenn uns die venezianische Göttin des Zufalls heute Abend schon in diese Gegend locken sollte, wir werden uns nicht dagegen wehren. Wir haben keinen Stadtplan dabei und sind nur auf unseren Instinkt angewiesen und auf die gelb-schwarzen Schilder, die nach San Marco und Rialto weisen. Mit anderen Worten, wir lassen uns treiben, lassen uns mal vom Touristenstrom durch enge Calli schieben, biegen dann wieder in Nebengassen ab, die nicht selten an einem stillen Kanal enden, manchmal aber auch durch einen niedrigen Sotoportego in ein Venedig führen, wo es nicht verwundern würde, wenn uns Damen und Herren, nach der Mode des 17. oder 18. Jahrhunderts gekleidet, entgegen kämen. Nach einiger Zeit des ziellosen Vor-sich-hin-schlenderns gleicht ein Kanal, ein Brückchen dem anderen. Auch die Calli sehen alle gleich aus, und oft hat man das Gefühl, die Menschen, denen man begegnet, schon einmal gesehen zu haben…

Durch ein hohes Gittertor in einer Mauer können wir in einen weitläufigen Garten blicken, der auf einer erhöhten Terrasse in der Mitte ein Restaurant zu beherbergen scheint. Auch die Speisekarte neben dem Tor deutet darauf hin. Wir rütteln am Tor, doch es ist verschlossen. Ein Pfeil sagt „Eingang in der Kneipe nebenan“, doch dort zuckt man bedauernd mit den Schultern. Zum Diskutieren und zum Suchen sind wir zu müde, was wir heute nicht finden, werden wir auch nicht suchen. In einer namenlosen Calle verkauft eine junge Frau aus dem Fenster einer Bäckerei heraus für einen Euro fünfzig riesige Pizzaviertel, die frisch aus dem Ofen kommen und die wir im Gehen herunter schlingen. Man hatte uns vor trockenen, uralten Teigfladen gewarnt, daher sind wir angenehm enttäuscht. Fast jeder in der Calle kaut mit vollem Mund. Es ist die preiswerteste und schmackhafteste Art, in Venedig nicht zu verhungern.

Als wir müde und durstig sind, erreichen wir einen namenlosen Campo, dessen eine Hälfte gerade Platz für die Tische und Stühle einer Trattoria hat. Wir bestellen un’ ombra bianca und una birra piccola, außerdem fragen wir, ob es eine Toilette gibt, denn man hatte uns gewarnt, dass sehr viele Kneipen noch nicht mal eine Toilette hätten, diese hier hat, und wir können uns beruhigt im Schatten der Markise niederlassen. Zu den Getränken wird ein Tellerchen Kartoffelchips serviert. Gratis ist auch der Blick auf ein Stück klassisch strenger Renaissance Architektur. Links die Fassade einer Kirche aus glänzenden Ziegelsteinen. Die gliedernden Horizontalen und Vertikalen sind aus weißem Marmor. Der dreieckige Türsturz über dem Portal soll die Vision antiker Tempelfronten herauf beschwören. Uns gegenüber die zart altrosa getünchte Fassade eines schlichten Wohnhauses. Die Fenster des ersten und zweiten Stocks haben Rundbögen, die des dritten, der wahrscheinlich später hinzugefügt wurde, sind einfache Rechtecke. Die blauen Fensterläden im dritten Stock sind geschlossen, im ersten Stock versucht eine ältere, offensichtlich schon ziemlich gebrechliche Frau, die Fensterscheiben mit einem Papiertaschentuch zu putzen. An der Hausecke, wo der Campo in eine enge Calle übergeht, hängt eine kunstvoll geschmiedete Straßenlaterne. Ein paar Tische weiter sitzen drei ältere Damen, die offensichtlich zum Kiez gehören. An jedem Stuhl lehnt ein aristokratischer Krückstock mit einem Griff aus ziseliertem Silber. Sie unterhalten sich lebhaft in einer Sprache, von der ich annehme, dass es Venezianisch ist. Ab und zu erscheint ein nervöser Gondoliere neben dem Kirchenportal, wo ein weißer Gartenstuhl für ihn bereit steht. Er raucht hastig eine Zigarette, murmelt etwas von Gondola, Gondola und verschwindet wieder in der Calle, die wahrscheinlich zum Canal Grande führt. Das herauszufinden, haben wir heute nicht mehr genug Energie. Wir wollen nur noch wissen, wo die nächste Vaporetto-Station ist, um zur Piazzale Roma zurück zu fahren. Wir bezahlen 7 Euro und machen uns auf, immer noch in Richtung San Marco.

Daß wir uns San Marco nähern, können wir an den Menupreisen der Restaurants ablesen. Ungefähr alle 10 Meter steigen sie um einen Euro… Ein kleiner Supermarkt, den wir hier nicht vermutet hätten, und der so etwas wie Normalität in den Touristenrummel bringt, kommt uns wie gerufen. Wir kaufen, da sie als einzige Schraubverschlüsse haben, 4 kleine Fläschchen Bardolino, eine Flasche Whisky, ein Stück Käse und eine Packung Grissini als leckeren, immer knackigen Brotersatz. Die Preise sind mitteleuropäischer Durchschnitt.

Mein Rucksack ist ziemlich schwer, als wir den Supermarkt verlassen. Irgendwann haben wir das Gefühl, im Kreis gegangen zu sein. An diesen winzigen Zucchini in einem Korb vor einem Tante Emma Laden waren wir doch erst vor einer Viertelstunde vorbeigekommen. Sicher bin ich mir natürlich nicht. Wie viele Geschäfte im Sestiere San Marco mochten diese winzigen Zucchini verkaufen. RR ist dagegen sicher, dieses Bild in einem Schaufenster vor einer Viertelstunde schon einmal gesehen zu haben. Mir fällt ein, was ich mir als Motto auf den Stadtplan, den mir das Italienische Fremdenverkehrsbüro in Frankfurt geschenkt hatte, notiert habe: In Venedig kann man einer Sache nie sicher sein… Ich spreche einen jungen Mann an, der mir verständnisvoll grinsend auf Französisch erklärt, dass wir am Ende der Calle nur links gehen müssen, dann tout droit, sempre diritto, immer geradeaus und in vier (!) Minuten ständen wir auf der Piazza. Da wir nach dem, was wir bis jetzt gesehen haben vermuten, dass in Venedig eine Gerade sehr krumm sein kann und vier Minuten durch acht Jahrhunderte führen können, sind wir froh, als wir nach nur 10 Minuten wirklich am Ziel sind.

RR: Während KB nach dem Weg fragt, habe ich die erste Begegnung mit einer venezianischen Katze. Sie hat hellblaue Augen und scheint sehr gebildet zu sein. Auf den Hinterpfoten stehend, versucht sie ein im Schaufenster eines Antiquariats liegendes Buch zu entziffern. Dabei würdigt sie weder uns noch sonst einen Menschen eines Blickes.

KB: Wir betreten die Piazza quasi durch den Dienstboteneingang. Denn die herrschaftliche Form der Annäherung an den „schönsten Salon Europas“ hat vom Wasser her stattzufinden. Die Basilika im Rücken, sehen wir rechts und links die Prokuratien, in deren Säulengängen sich die berühmten Cafès Florian und Quadri gegenüberliegen und wo in den Läden und Boutiquen zu horrenden Preisen Designer-Schrott verkauft wird. Ich mache ein paar Pflichtfotos. RR auf dem Markusplatz. Der Campanile. Der Uhrturm mit dem himmelblauen Zifferblatt, von dessen obersten Sims ein steinerner geflügelter Löwe, dessen Kopf eher an einen griesgrämigen Bernhardiner erinnert, auf uns herabblickt. Diese Zurschaustellungen der Macht und des Reichtums habgieriger Händlerdynastien lassen uns ziemlich kalt. Das sakrale Gegenstück, die Basilika mit ihrer byzantinischen Disneyland-Architektur und der Portalfassade, die eine einzige Beutekunst-Ausstellung ist, sagt uns noch weniger. Der Dogenpalast schließlich, wie alle Monumentalarchitektur, die von der Überlegenheit einer Minderheit künden soll, wirkt ein bisschen langweilig.

Auf dem Weg zur Vaporetto-Station vermeiden wir es, zwischen den beiden Marmorsäulen hindurch zu gehen, weil wir gelesen hatten, dass die Venezianer glauben, dass das Unglück bringt, denn hier waren während der großen Zeit die zum Tode Verurteilten hingerichtet wurden, wenn der Rat der Zehn es nicht vorgezogen hatte, sie, um kein großes Aufsehen zu erregen, klammheimlich im „Canale Orfane“, dem „Kanal der Waisen“ irgendwo zwischen der Guidecca und dem Lido ertränken zu lassen. Auf der einen Säule der allgegenwärtige geflügelte Löwe, auf der anderen der Heilige Theodor, der mit einem Krokodil kämpft und einstmals der Schutzpatron der Stadt war. Als Venedig immer reicher und mächtiger wurde, musste einer her, der mehr hermachte als der poplige Theodor. So kam es, dass ein Sonderkommando der venezianischen Marine im Jahre 828 den angeblichen Leichnam des Evangelisten Markus aus dem ägyptischen Alexandria raubte und, unter einer Ladung Schweinefleisch verborgen, nach Venedig schmuggelte. Dort wird bis heute jedes einzelne Knöchelchen als Reliquie verehrt. Ins Bild passt, dass beide Säulen im frühen 12. Jahrhundert in Syrien geklaut wurden.

Über die Mole geht ein leichter Abendwind, und es tut gut, aus dem engen Halbdunkel der Calli und Kanäle herauszutreten und auf das Licht und die Weite der Lagune zu blicken. Die Promenade, entlang den Giardini ex Reali, einer kleinen Parkanlage, ist sehr belebt vom feierabendlichen Fußgängerverkehr. Auf der Terrasse einer schlichten, weißen Villa stehen eng aneinander gequetscht Damen und Herren in Abendgarderobe, halten sich an Sektgläsern fest und machen Konversation. Am Giebel des Gebäudes lesen wir den Schriftzug aus pinkfarbenen Leuchtbuchstaben: „Cipriani“. Erst denken wir an ein Hotel, doch dann dämmert es, wir gehen gerade an „Harry’s Bar“ vorbei, wo Hemingway über die Entenjagd auf Torcello schwadroniert und aristokratische Rot-Kreuz-Schwestern poussiert hatte. So wie es für manche Leute ein absolutes Muss ist, in Harry’s Bar gesehen worden zu sein, so bereitet es uns eine besondere Genugtuung mitteilen zu dürfen, dass wir nicht in Harry’s Bar, nicht in der Basilika und auch nicht im Dogenpalast gewesen sind…

Der Vaporetto zur Piazzale Roma ist ziemlich voll. Das einzige, was wir heute vom Canal Grande sehen, ist ein Mann, der in einem Traghetto steht und Zeitung liest! (Traghetto heißen die Gondeln, die an zwei oder drei Stellen am Canal Grande einen preiswerten Fährdienst von Ufer zu Ufer versehen). Da wir keinen Entwerter gesehen hatten, zeigen wir unsere Tickets der jungen Frau, die dafür sorgt, dass das Ein- und Aussteigen der Passagiere sowie das An- und Ablegen des Bootes reibungslos vonstatten geht. Sie schreibt mit Kugelschreiber Datum und Uhrzeit auf die Tickets, und die Sache ist erledigt. Der Vaporetto braucht eine Dreiviertelstunde bis zur Piazzale Roma. Dort erwischen wir gerade noch den Bus um 20 Uhr 25 und sind gegen neun in der Villa Gasparini.

RR: Zwischen Dolo und Mira sehen wir vom Bus aus etliche verwitterte, mit Moos überzogene Skulpturen am Rande einer Wiese oder eines Feldes stehen, die letzten Zeugen von der Größe der Anwesen vor 250 Jahren.

Zwei Häuser von der Villa Gasparini entfernt hatten wir mittags das Schild eines Restaurants gesehen, in dem wir jetzt essen wollen. Es überrascht uns nicht, dass wir vor verschlossener Tür stehen - wir haben uns im Laufe unserer Reisen an geschlossene Gaststätten gewöhnt. Da unsere Köpfe von einer schwirrenden Leere erfüllt sind, sitzen wir noch bis nach 23.00 Uhr auf der Terrasse und liegen dann endlich nach fast 20 Stunden erschöpft im Bett.

1
2
3
4
5
6
7
8
9
© Klaus Bölling, Frankfurt 2007
 
Unsere Linkempfehlung: Reisespinne
 

separation

Copyright © 2002-2009. Alle Rechte vorbehalten.
WebDesign & WebHosting: nalukkettu consulting

manasvi.de