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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Venedig, Mai 2007

ein Reisebericht

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DI 15.5.07.
RR: Um halb acht stehen wir ziemlich zerschlagen auf und sitzen gegen 9.00 Uhr im Frühstückszimmer, wo ich an der Senseo-Kaffeemaschine versuche, die für mich richtige Kaffee-Mischung zu zapfen. KB ist glücklich, als er Teebeutel entdeckt, die Taste für das heiße Wasser zu bedienen, bereitet ihm keine Schwierigkeiten.

In der Empfangshalle der Villa Gasparini hatten wir zuvor den zartgrün bis hellviolett glänzenden Kronleuchter nebst dazugehörigen Wandleuchtern bewundert. Diese jugendstilähnlichen Lampen stammen tatsächlich noch aus dem 19. Jahrhundert, und man bekommt eine Ahnung von den Glasbläser-Künstlern der Insel Murano. Die Empfangsdame verdreht ein wenig die Augen als sie zu erklären versucht, wie mühsam das Putzen dieses Glases ist.

KB: Um elf Uhr nehmen wir den Bus zur Piazzale Roma. Mit der Vaporetto Linie 1 bis S. Marcuola. Das Boot hält vor der gleichnamigen Kirche, in der ein „Abendmahl“ von Tintoretto hängt, das wir uns aber schenken. Cannaregio, das Sestiere nördlich des Canal Grande steht heute auf unserem Programm.

Calli, Kanäle, Brücken, rechts, links, treppauf, treppab. Das Sestiere ist nicht so dicht bebaut wie San Marco oder San Polo, die Calli sind weniger eng, im Wasser der Kanäle spiegelt sich mehr Himmel, funkelt mehr Licht als auf der anderen Seite des Canal Grande. Wir suchen nichts Bestimmtes, wir wissen, es gibt das ehemalige jüdische Ghetto, einige Kirchen und Palazzi und die berühmte Ca’ d’Oro am Ufer des Canal Grande.

Am Rio terrà San Leonardo bewundern wir eine Katze, die souverän den öffentlichen Raum einer Straßenecke beherrscht. Ein älterer Herr streichelt sie, lächelt uns an und sagt Gato bonito. Das heißt auf Spanisch, möglicherweise auch auf Italienisch: Hübsche Katze. Wir kauderwelschen ein bisschen auf Spanisch, Italienisch, Katalanisch und, ich vermute, er seinerseits auf Venezianisch über die Katzen in Venedig, die sich im Paradies fühlen müssen, im Gegensatz zu ihren armen, halbverhungerten Kolleginnen in Barcelona etwa.

Ein Rio terrà ist ein trocken gelegter und mit Erde aufgeschütteter ehemaliger Kanal, der sich meistens in eine breitere Einkaufsstraße verwandelt hat, über die sich der Touristentrampelpfad hinzieht. Doch man braucht nur in den Schatten eines stillen Gässchens zu treten, und schon ist man außerhalb der Welt. Wir gehen über kleine Brücken, deren anmutige Bögen sich im grünen Wasser schmaler Kanäle spiegeln, auf denen dann und wann ein Lastkahn mit Außenbordmotor tuckert.

Manchmal sehen wir nach dem Stand der Sonne, ohne darin eine wirkliche Orientierungshilfe zu finden, aber die braucht man auch nicht; wenn man nur lange genug im Zickzack und manchmal wohl auch im Kreis geht, findet man unweigerlich das, was man nicht gesucht hat. In wohl kaum einer anderen Stadt dieser Größenordnung ist es so reizvoll, nicht zu wissen, wo man sich gerade befindet, wie in Venedig. Verirren kann man sich nicht, früher oder später findet man immer wieder zur Herde zurück, aber man kann unvermutet auf verborgene Schätze stoßen, die man nicht gefunden hätte, wenn man nach ihnen gesucht hätte. Die Entfernungen von da nach dort überschreiten nie das menschliche Maß, die Gestaltung der Verkehrswege musste niemals den Bedürfnissen mechanischer Fahrzeuge angepasst werden. Man kann also von der direkten Verbindung zwischen zwei Punkten beliebig oft nach rechts und links ausscheren, ohne dass es ermüdend oder langweilig wird.

Obwohl ich sicher bin, dass er es nicht ist, weil es keinerlei befestigte Ufer gibt und das Wasser direkt an die Hauswände klatscht, frage ich eine ältere Frau in Kittelschürze, ob dies der Canale di Cannaregio sei. Sie nickt eifrig mit dem Kopf und singt Sse Sse Signore… Auch der nächste Kanal kann es nicht sein, also machen wir einen Schlenker um 180 Grad, gehen so lange durch menschenleere, schattige Gässchen, die ganz von der heiteren Schwermut des mediterranen Augenblicks erfüllt sind, bis wir uns plötzlich auf einem etwas schäbigen, schattenlosen Platz wieder finden, wo wir an einer Hauswand lesen Campo di Ghetto Nuovo. Im Erdgeschoß eines fünfstöckigen Wohnhauses eine Mischung aus Kneipe, Betstube und Buchhandlung, wo in der dämmrigen Kühle orthodoxe Juden mit schwarzen Vollbärten und ebenso schwarzen Hüten auf dem Kopf würdevoll um Tische herumsitzen und reden. Vor dem benachbarten, gemauerten Arkadengang mit niedrigen Rundbögen steht ein hagerer, vollbärtiger Mensch mit Kipa auf dem Haar und diskutiert mit einer amerikanischen Touristin, die sich die Bilder betrachtet, die er vor ihr ausgebreitet hat. Ein paar Schritte weiter die Casa di Riposto, das jüdische Altersheim. Die Lücke zwischen diesem und dem etwa 15 Meter entfernten Nachbarhaus schließt eine über fünf Meter hohe Backsteinmauer, die oben mit Stacheldraht bewehrt ist. Rechts neben der vergitterten Tür zwei Bronzetafeln, die an das Schicksal der 200 venezianischen Juden erinnern, die im Dezember 1943 und im August 1944 von der SS in die Vernichtungslager deportiert wurden. IL VOSTRO TRISTE OLOCAUSTO È SCOLPITO NELLA STORIA E NULLA CANCELLERÀ I VOSTRI MORTI DALLA NOSTRA MEMORIA PERQUE LE NOSTRE MEMORIE SONO LA VOSTRA UNICA TOMBA. Euer trauriger Tod ist eingraviert in das Buch der Geschichte und nichts wird ihn aus unserem Gedächtnis vertreiben können, denn unsere Erinnerung ist das einzige Grab, das ihr habt… Merkwürdigerweise gibt es den Text nur in Italienisch, Französisch und Englisch. Eigentlich sollten gerade auch deutsche Touristen über das, was hier passiert ist, in ihrer Muttersprache aufgeklärt werden. Schließlich sind es ihre Väter und Großväter, die dazu beigetragen haben, dass die Überlebenden mit solchen Tafeln um ihre Toten trauern müssen. Links neben dem Tor hängen mehrere Flachreliefs, die sehr eindringlich, und auch für analphabetische deutsche Touristen verständlich, Szenen am Rande eines Massengrabs zeigen, wo Männer, Frauen und Kinder von der deutschen Wehrmacht erschossen werden.

Beim Anblick der Preise auf der Speisekarte des einzigen Restaurants auf dem Campo vergeht uns der Appetit, und wir verlassen das „neue“ Ghetto über die nach Süden führende Calle, die sich Ghetto vecchio, altes Ghetto, nennt, obwohl sie später erbaut wurde. Es waren einmal sechstausend Menschen, die hier auf engstem Raum zusammen lebten. Da das Ghetto auf allen Seiten von Kanälen umgeben war und sich nicht ausbreiten konnte, war man gezwungen in die Höhe zu bauen, daher sind die Häuser teilweise bis zu sieben Stockwerke hoch. Im Erdgeschoß eines der Häuser sitzt hinter der Schaufensterscheibe eines Antiquariats ein Mann an einem Schreibtisch und liest. Im Fenster steht an exponierter Stelle Thomas Mann: La Morte a Venezia. Daneben ein Band Henry James. Die Szene strahlt eine solche konzentrierte Ruhe aus, wie sie sonst nur noch von den souverän die Eingänge zu den kleinen Läden beherrschenden, wunderschönen Katzen ausgeht. Ein Lädchen hat neben dem Eingang Reproduktionen von Gemälden ausgestellt, die jüdische Synagogen in ganz Europa zeigen. In dem englischen Text, der daneben hängt, heißt es u.a. „The synagogue of Frankfurt and the Jewish Community of Worms don’t exist anymore. However we feel they should live in our memory.“ An vielen Hauswänden hängen Kränze aus Plastikblumen, die an Opfer des Naziterrors erinnern. Am Ende des alten Ghettos wagen wir uns schließlich in einen niedrigen, schmalen Durchgang, einen Sotoportego, wo man in den Mauern noch die schweren hölzernen Türangeln sehen kann, in die früher bei Sonnenuntergang die Tore eingehängt wurden, die das Ghetto nachts von der Außenwelt abschnitten.

Nachdem wir den Durchgang passiert haben, stehen wir etwas benommen im grellen Sonnenlicht am Ufer eines breiteren Kanals, über dessen grüne Wasser ein frischer Wind aus der Lagune weht. Der Himmel ist nach der Enge des Ghettos auf einmal sehr hoch und weit. Weiße Sommerwolken türmen sich über dem Blau der Festlandlagune. Auf dem Canale di Cannaregio, denn um diesen handelt es sich, herrscht reger Verkehr. Lange Lastkähne, die Güter des täglichen Bedarfs transportieren, schnittige Motorboote, auf denen Goldkettchen spazieren gefahren werden und voll besetzte Vaporetti wuseln fröhlich durcheinander. Es riecht nach Meer und Spaghetti Bolognese.

Über die Ponte delle Guglie gehen wir auf die andere Kanalseite, die im Schatten liegt. Gleich am Fuß der Brücke, vom Touristenstrom umspült, ein Ristorante , das für 30 Euro ein „Touristenmenu“ anbietet. Kaum 100 Meter weiter kommen wir an einem asiatischen Restaurant, „Chinatown“ genannt, vorbei. Im Vergleich zum Ristorante sind die Preise vorkriegsmäßig, wenn das Essen genießbar ist, wäre es eine Alternative zur Pizza im Stehen. Wir merken es vor für heute Nachmittag.

Auf der Fondamenta di San Giobbe in Richtung Ponte Tre Archi ist außer ein paar Einheimischen kaum ein Mensch zu sehen. Kurz vor der einzigen dreibogigen Brücke, die es in Venedig gibt, lassen wir uns auf der Terrasse einer Trattoria nieder und bestellen Birra und Prosecco (5 €). Hier spricht man noch den venezianischen Dialekt, der eine Mischung aus Lateinisch, Portugiesisch und Catalan zu sein scheint, aber die Sprachen jeweils so verfremdet hat, dass kaum ein Wort wiederzuerkennen ist. Was das Schwäbische für Deutschland ist, könnte das Venezianische für Italien sein.

Wir sitzen direkt am Wasser und schauen auf die aus glasierten Ziegeln und weißem Marmor errichtete Brücke, die mit elegantem Dreierbogen die Ufer des Canale miteinander verbindet. Der weiße Marmor mag übrigens meiner nach Schönheit und Unvergänglichkeit gierenden Phantasie entspringen, es kann sich ohne weiteres auch um profanen, weiß getünchten Sandstein handeln. Neben dem Brückenaufgang auf der anderen Seite ein etwas verwittert und schief aussehender, aber adrett pastellfarben renovierter, dreistöckiger Palazzo, in dem um die Mitte des 18. Jahrhunderts Jean Jacques Rousseau als Sekretär des französischen Botschafters am Federkiel gekaut haben soll. Auf zahlreiche der schrägen Ziegeldächer sind abenteuerlich konstruierte Dachgärten in den Himmel gebaut, wie wir sie aus den Romanen Donna Leons kennen. Vorn stehen sie auf hohen, rechteckig gemauerten, an sehr schlanke Schornsteine erinnernden Stelzen und hinten kleben sie irgendwie auf dem Dachfirst. Commissario Brunetti muß ganz in der Nähe wohnen. Mir wird vom bloßen Hinschauen schwindlig, jeder Windhauch vom Meer scheint die hölzernen Konstrukte davon wehen zu können.

Von der dreibogigen Brücke genießen wir, wie eine Verheißung fernen Glücks den Blick auf die Mündung des Kanals in die Laguna morta, die fast nur noch aus Industriebrühe bestehen soll und auf einer Breite von 2 Kilometern Venedig von der terra ferma trennt. Es ist ein Anblick, der eine diffuse Sehnsucht weckt, nach Schönheit, nach Reinheit, nach einer Welt im Urzustand der Unschuld, wie es ihn wohl nie gegeben hat und nie geben wird, wie er aber in Venedig beim Blick von einer Brücke als Möglichkeit gedacht werden kann.

Auf der Ghettoseite des Kanals tauchen wir wieder ein in den Halbschatten der Gassen und Kanäle. Durch ein vergittertes Loch in einer Mauer sehen wir in einen verwilderten Garten. Üppig wucherndes Grün, als einziger Farbtupfer eine halb verblühte Hortensie. Wir begegnen kaum einem Menschen. Wie schön wäre es, wenn jetzt aus einem der mittäglichen Fenster eine Belcanto-Arie erklänge. Doch wir hören nichts als unsere Schritte und das Flügelschlagen der Tauben. Oft enden die Gassen an einem Kanal, und wir müssen Umwege laufen, obwohl wir gar nicht wissen, wo wir eigentlich hin wollen.

Manche der meist dreistöckigen Häuser scheinen noch nicht alt zu sein. Sie erinnern bisweilen an Plattenbauten im Miniaturformat, haben dafür aber eine grellbunte Fassade, vor der Wäsche im Lagunenwind flattert. Hinter jeder Straßenecke ändert sich die Perspektive. Wenn hier auch die rechten Winkel vorherrschend zu sein scheinen, sie verändern das Straßenbild doch nie so sehr, dass es seinen Bühnencharakter verlöre. An jeder Straßenecke könnte ein Stück von Goldoni aufgeführt werden. Jedes Stückchen des öffentlichen Raums ist von einer Intimität, die es in anderen Städten dieser Größenordnung kaum noch gibt.

Dann inmitten der rechten Winkel eine zweistöckige Häuserzeile mit rundbogigen Fenstern und an der Außenmauer klebenden, bauchigen Kaminen, deren Schornsteinabdeckungen an den Kopfschmuck griechisch orthodoxer Priester erinnern. Nur ein einsamer älterer Herr begegnet uns, der mit gesenktem Kopf und einer Plastiktüte an der Hand durch die melancholische Stille des Mittags schlurft.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2007
 
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