deutsche Version

manasvi.com/manasvi.de
Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
©
Webmail
Rechtshinweis
Feedback
 
 

Venedig, Mai 2007

ein Reisebericht

1
2
3
4
5
6
7
8
9

Da das Bühnenbild der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Gassen bis in den letzten Winkel von einer erbarmungslosen Mittagssonne ausgeleuchtet ist, flüchten wir in den Schlagschatten einer Häuserzeile, die in Ost-West-Richtung verläuft, doch leider am Ufer eines Kanals endet, was uns zur Umkehr und zu abermaligem Venedig-Zick-Zack nötigt. Zumindest lassen wir uns jetzt dazu herab, mal in einen der Stadtpläne, die wir dabei haben, zu schauen, wobei wir entdecken, dass wir uns ganz in der Nähe des Campo dei Mori und der Kirche der Madonna dell’Orto befinden, wo es Tizians und Tintorettos und - Schatten gibt. Das bedeutet, wenn wir dort hin, und überhaupt irgendwo hin wollen, müssen wir die ganze Länge des im Licht einer krachenden Sonne vor uns liegenden Kanalufers, auf dem jegliches menschliche Leben verdampft zu sein scheint, hinter uns bringen. Es gibt keine Alternative. Mütze auf, Augen zu und durch!

Auf der anderen, nicht befestigten Seite des Kanals klatschen die Wellen gegen die unverputzten Mauern schäbiger Gebäude, die nach Lagerschuppen aussehen. Und in der Tat, dort wird gearbeitet. Vor einem geöffneten Tor, das den Blick auf Stapel von Paletten mit Kisten drauf frei gibt, sind zwei Männer dabei, mit Hilfe eines Gabelstaplers einen Lastkahn zu entladen. Ein Gabelstapler in Venedig ist etwa so exotisch wie es ein Dinosaurier auf der Leipziger Straße in Frankfurt-Bockenheim wäre.

Nach etlichen hundert Metern beschwerlichen Marsches erreichen wir den Campo di Sant’Alvise, dessen grauweißer Marmorboden uns unbarmherzige Fieberglut entgegenschleudert. Der Platz ist völlig leer und scheint nicht mehr von dieser Welt zu sein. Gleichsam als habe man vergessen, die Kulissen einer verstaubten Goldoni-Inszenierung wegzuräumen. Benommen von Hitze und Licht stolpern wir in ein geöffnetes, Schatten verheißendes Kirchenportal, hinter dem eine glasverkleidete Kassenbox daran erinnert, dass wir in Venedig sind, wo hinter jeder Kirchenmauer Bilder berühmter Maler hängen, für die man, so man sie sehen will, Eintritt bezahlen muss. Hier sind es, laut Reiseführer, drei Tiepolos, sowie die „entzückenden Kindercarpaccios“, die wir uns gern angeschaut hätten, doch die Dame im Kassenhäuschen scheint über unser Erscheinen derart erschrocken, dass wir nur einen kurzen, kostenlosen Rundumblick wagen und wieder in die Helligkeit des Mittags hinaustreten, wobei sie uns auf dem Fuß folgt und mit einem verstohlen um Verständnis bittenden Blick das Portal hinter sich abschließt. Wir ahnen, den ganzen Vormittag hatte sich kein Schwein hier her verirrt, und nun hätten wir sie im letzten Moment fast um ihre wohlverdiente Mittagspause gebracht…

Ein Mann, der seinen Hund ausführt, hat den Platz inzwischen durch seine Anwesenheit wiederbelebt. Wir fragen ihn, wo es zum Campo dei Mori geht. Über das Brückchen, dann links, am Kanal entlang und wieder links. Der Campo ist eher eine verbreiterte Gasse, die von den bröckelnden Mauern niedriger Palazzi gesäumt ist. An vier Stellen wachsen weiße, Turban tragende Gestalten, von denen man annimmt, dass sie arabische Kaufleute darstellen sollen, die im Mittelalter hier ein Handelskontor hatten, aus den Fassaden. Die Gestalt an der Ecke hat eine nachträglich hinzugefügte, übergroße, schwarze eiserne Nase im Gesicht, was nicht sehr schön aussieht. Frühere Generationen pflegten an dieser Ecke gegen die Obrigkeit gerichtete Spottverse niederzulegen und dabei dem Herrn Antonio Rioba über die damals noch weiße Nase aus Stein zu streichen, bis sie so abgenutzt war, dass die moderne Obrigkeit sie durch eine weniger empfindliche Karnevalsnase aus Eisen ersetzen ließ, deren Aufnahmekapazität für Streicheleinheiten ungleich größer war…

Schon von der Brücke aus hat man einen schönen Blick auf die Hauptfassade der Kirche Madonna dell’Orto, der Madonna vom Garten. Gelblich rote Backsteinmauern, weißer Marmor, Türmchen, eine runde Kuppel in der Mitte, alles wie vom Zuckerbäcker. Im Inneren ein paar protzige Marmoraltäre, einige Tintorettos, wo kräftige Farben, Licht und Schatten und biblische Gestalten fröhlich durcheinander wuseln. In der rechten Chorkapelle das Grabmal Jacopo Robustis, alias Tintoretto. Auch ein Tizian hängt, dunkel und geheimnisvoll, in einer Seitenkapelle. Ein Bellini ist nur als Foto vorhanden, das Original wurde 1939 geklaut und ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Der Eintritt von 2 Euro 50 lohnt sich. Mein Sono pensionato hatte bei der Dame im Kassenhäuschen leider nur ein müdes Lächeln bewirkt. Als wir die Kirche verlassen, ist der Platz davor menschenleer, kaum zu glauben, dass zur Blütezeit Venedigs hier ein Zentrum gesellschaftlichen Lebens gewesen sein soll, wo Künstler, Kaufleute und Kurtisanen sich lebensfroh miteinander vermischten.

Am Haus Nummer 3398 vorbei, in dem Tintoretto die letzten 20 Lebensjahre mit seiner Familie verbrachte, ehe er endgültig in die Gruft in der Kirche Madonna dell’Orto umzog, gehen wir weiter in Richtung Süden, wo wir hoffen, auf den Canal Grande zu treffen, von dem aus wir dann sicher sind, uns in Richtung Ristorante „Chinatown“ orientieren zu können, denn wir haben Hunger und Durst und müssen mal pinkeln. Wir erreichen auch ohne Probleme die Vaporetto Station San Marcuola, wo ich mich, um sicher zu gehen, in welche Richtung wir uns zu halten haben, mit einem Angestellten der Verkehrsbetriebe überflüssigerweise auf eine Diskussion in einer dem Esperanto nachempfundenen Sprache einlasse, nämlich ob der Canale di Cannaregio 100 Meter weiter in Richtung Bahnhof oder, wie er mir weismachen will, in Richtung Rialto in den Canal Grande mündet. Seine Körpersprache drückt aus, dass er überzeugt ist, einen Geistesgestörten vor sich zu haben, den er nur loswerden kann, indem er gebetsmühlenartig die magischen Worte per Rialto, per San Marco wiederholt, weil seine beschränkte Phantasie sich nicht vorstellen kann, dass ein ausländischer Tourist in Venedig etwas anderes vorhaben könnte, als sich von Mittouristen über die Rialto Brücke zum Markusplatz schieben zu lassen.

Wir hatten gehört und gelesen, dass es in Venedig nicht leicht war, einen Ort, an den man einmal durch Zufall gelangt war, ein zweites mal mit vollem Bewusstsein wieder zu finden. Doch wir folgen einfach selbstbewusst dem einen Gässchen, verwerfen das andere, schlagen noch ein paar Haken und stehen wenige Minuten später auf dem breiten Trampelpfad, der zur Ponte delle Guglie und damit zum Canale di Cannaregio führt. RR kauft bei einem der vielen Andenkenhändler kleine venezianische Masken, während ich mich diskret in den Schatten einer Hauswand drücke. Schon von der Brücke aus sehen wir die Terrasse des Chinatown, auf der wir uns kurz darauf niederlassen. Wir bestellen Huhn und Ente mit Gemüse und Reis, Bier und Wasser, Espresso und Capuccino. Das Essen ist auf gehobenem Garküchen-Niveau, und wir zahlen für alles zusammen knapp 25 Euro. Wenn wir gut italienisch essen wollen, werden wir das in Frankfurt machen, dort haben wir im Umkreis von 100 Metern um unsere Wohnung mindestens 6 erstklassige Ristorante und Pizzerien, die wesentlich besser und preiswerter sind als die Touristenfallen hier.

Während wir nach dem Essen in den bequemen Aluminiumstühlen sitzen, entspannt aufs Wasser schauen und stolz darauf sind, dass wir diesen Ort wieder gefunden haben, können wir der Müllabfuhr bei der Arbeit zusehen. Es gibt keine Mülleimer. Die Bewohner stellen zugebundene Müllbeutel vor die Haustür, die man in mobilen Gittercontainern sammelt, welche auf Frachtkähne verladen und zur Müllkippe auf dem Festland geschippert werden.

Da wir meinen, unser Laufpensum für heute so ziemlich erfüllt zu haben, gehen wir die paar Schritte zur Vaporetto-Station am Fuß der Guglie Brücke und steigen in die Linie 41 nach Murano. Das ist eine der großen Annehmlichkeiten in Venedig, wenn die Füße pflastermüde sind, setzt man sich in irgendeinen Vaporetto und lässt sich, egal wohin und so lange man Lust hat, durch einen frischen Wind übers milchig grüne Wasser dieseln. Wir haben Glück und finden zwei Sitzplätze im offenen Heck des Bootes. Dort röhrt der Motor beim An- und Ablegen bis tief ins Zwerchfell hinein, und man hat das Gefühl, nur ein paar Zentimeter über der Wasserlinie zu sitzen. Die Schiffsschrauben schäumen eine im Gegenlicht der niedrig stehenden Sonne tausendfach funkelnde Kielwasserspur auf. Auf der Fahrt zur Fondamente Nuove sehen wir etwas von der dem Festland zugewandten, weniger attraktiven Kehrseite des Sestiere, das wir heute Vormittag durchstreift haben. Ein Kran ragt in den Himmel. Kleinere Reparaturwerften mit dem rostigen Charme von Schrottplätzen säumen die Ufer. An San Michele vorbei, wo hinter hohen roten Ziegelmauern die Toten ruhen, erreichen wir schließlich nach kurzer Fahrt Murano.

Im 16. Jahrhundert lebten und arbeiteten 30 000 Menschen auf Murano. Jetzt sind es noch knapp 7000, die, außer vom Tourismus, vom Glasblasen und vom Verkauf der dabei hergestellten, mehr oder weniger schönen Produkte leben. Die Schaufenster entlang des Kanals, der von der Vaporetto-Station Colonna ausgeht, sind voll davon. Was davon in Asien oder auf Murano hergestellt wurde, können wir nicht beurteilen, es ist uns aber auch egal, da wir sowieso nicht vorhaben, etwas zu kaufen. Auch der ausdrückliche Hinweis in vielen Schaufenstern, „100% Murano-Glas“, kann uns davon nicht abbringen. Bis auf ein paar Vasen ohne Preisschild sind die zur Schau gestellten Dinge schlichtweg scheußlich.

Am Ende der Fondamenta Vetrai stolpern wir in die Kirche San Pietro Martire, wo es einen Bellini gibt, den wir für einen Tintoretto gehalten hätten. Im Seitenschiff hängt ein achtarmiger Leuchter aus weißem, geriffelten Muranoglas. Der würde uns gefallen. Auch die kunstvollen Arbeiten aus farbigem Marmor an den Altären und den Balustraden, die den Chor vom Hauptschiff trennen, beeindrucken uns. Ebenso ein ockerfarbenes Taufbecken.

Gegenüber der Kirche, auf der anderen Seite des Rio del Vetrai, steht in heroischer Einsamkeit ein stilisierter Weihnachtsbaum aus bunten Glasröhren und gibt Anlass zu der Frage, ob der Geschmack im Designerland Italien sich wirklich so tiefgreifend gewandelt hat, dass so etwas im öffentlichen Raum zur Schau gestellt werden kann.

Auf einer eisernen Brücke überqueren wir den Canal Grande di Murano, gehen einige hundert Schritte bis zur Vaporetto-Station Museo, wo wir das nächste Boot zurück zur Haltestelle Colonna nehmen, weil wir davon ausgehen, dass wir dort etwas trinken und dabei gleichzeitig den Blick auf die Silhouette Venedigs auf der anderen Seite der Lagune genießen können. Auf der kurzen Fahrt kommen wir an dem ziemlich ausgedehnten Gelände ehemaliger Glasfabriken vorbei, die nicht den Eindruck machen, als ob in ihnen noch gearbeitet würde. Aus den Schornsteinen steigt kein Rauch, und viele Fensterscheiben sind zerbrochen. Die einzigen menschlichen Wesen, die wir vom Wasser aus sehen, sind zwei fettleibige junge Männer, die einem schrottreifen Lastkahn einen neuen Anstrich verpassen.

An der Haltestelle gibt es einen Kiosk mit Tischen und Stühlen davor. Leider ist der Inhaber gerade dabei, die Schotten dicht zu machen. Dabei ist es erst kurz nach fünf. Doch er ist gnädig und füllt uns ein Glas mit Bier und eines mit Prosecco (2,30 + 1,50), dann räumt er die Tische und Stühle weg. Da es zu regnen beginnt, flüchten wir mit den Gläsern in der Hand unter das Dach der ein paar Schritte entfernten Vaporetto-Station. Ich hatte gerade das leere Muranoglas im Rucksack verstaut, als wir den jungen Mann vom Kiosk mit unmissverständlicher Absicht auf die Haltestelle zu eilen sehen, wo er mit etwas mürrischer Miene seine Gläser zurück verlangt. Ich kann meines noch unauffällig aus dem Rucksack holen, während RR ihres erst austrinken muss. Schade, wäre ein nettes Souvenir gewesen. Er scheint dem Wahrheitsgehalt unserer treuherzigen Beteuerungen, dass wir die Gläser selbstverständlich zurück gebracht hätten, keine große Bedeutung beizumessen, sein grimmiger Gesichtsausdruck deutet eher darauf hin, dass er uns liebend gern in der Lagune ersäufen würde.

Mit dem Vaporetto Nr. 41 fahren wir zurück zur Piazzale Roma, wo wir gerade noch den Bus um halb acht erreichen. Der wird, nachdem wir die letzten beiden Sitzplätze erwischt haben, sehr voll. Während der Fahrt sehen wir am nördlichen Horizont die Konturen der Dolomiten. Wenn man sich die Gesichter der Fahrgäste anschaut, könnte man nicht sagen, dass irgendwer „typisch italienisch“ aussieht. Nur die junge Frau uns gegenüber scheint einem Gemälde Botticellis entstiegen zu sein.

Als wir uns der Haltestelle Cesare Musatti nähern, drücken wir den Knopf für den Haltewunsch zu spät, so dass der Bus nach einem heftigen Bremsmanöver erst 50 Meter hinter der Haltestelle direkt vor der Villa zum Stehen kommt, was den Fahrer veranlasst, missbilligend hinter uns her zu schauen.

Heute ist es angenehmer, weil kühler als gestern, trotzdem treibt uns der Lärm, nachdem wir uns notdürftig mit Rotwein und Whisky abgefüllt haben, um halb elf ins Bett.

1
2
3
4
5
6
7
8
9
© Klaus Bölling, Frankfurt 2007
 
Unsere Linkempfehlung: Reisespinne
 

separation

Copyright © 2002-2009. Alle Rechte vorbehalten.
WebDesign & WebHosting: nalukkettu consulting

manasvi.de