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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Venedig, Mai 2007

ein Reisebericht

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MI 16.5.07.
Wir stehen um halb acht auf. Kurz nach zehn sitzen wir im Bus nach Venedig. Der Himmel ist von italienischem Blau, kein Wölkchen ist zu sehen. Es ist noch angenehm kühl, doch wir wissen, wenn die Sonne die letzten Dunstschleier über der Brenta geschluckt hat, wird es heiß werden. Trotzdem haben wir vorsichtshalber unsere Schirme dabei.

Wir nehmen einen Vaporetto der Linie 1, die von der Piazzale Roma bis San Marco jede Station am Canal Grande anfährt, mit dem wir heute einen Fototermin haben. Da das Boot sehr voll ist, stehe ich nach kurzer Zeit, weil man von dort aus einen guten Blick hat, halb in der Fahrerkabine. Wir merken ziemlich schnell, dass es müßig ist, die Palazzi links und rechts irgendwelchen Namen zuzuordnen und lassen deshalb die berühmte Kulisse, über die bereits alles gesagt und geschrieben worden ist, gemächlich an uns vorüber ziehen und sich zu einem Bild verdichten aus namenlosen, pastellfarbenen Fassaden, in deren Fenstern, wenn sie nicht gerade blind oder vernagelt sind, sich die Jahrhunderte spiegeln. Mag er, von einer Aura aus Schönheit umgeben, noch so prunkvoll sein, jeder Palazzo hat immer auch etwas von einer aristokratischen, an das abgetragene Tweedjacket eines britischen Landjunkers erinnernden Schäbigkeit. Die meisten sehen aus, als hätten sie schon längst versunken sein müssen, und doch stehen sie seit Jahrhunderten, und werden wahrscheinlich noch weitere Jahrhunderte ihre Fassaden im Großen Canal spiegeln, dessen kleine, milchig grüne Wellen gegen ihre feuchten Grundmauern klatschen, während über den rostroten Dächern mächtige Kirchenkuppeln stumpfen Grünspan in den makellosen Himmel wölben. Der Wind, der heute aus Osten kommt, riecht nach Muscheln und Seetang und hat die Farbe des Meeres.

Auf den beiden Märkten am Rialto herrscht lebhafter Betrieb, und die leeren Gemüse- und Fischkisten stapeln sich längs des Ufers. Als wir uns der berühmten Brücke nähern, scheucht mich der Fahrer, da ich jetzt fast neben ihm stehe, mit einer etwas unwirschen Handbewegung zurück. Vor, unter und hinter der Brücke wimmelt es von Gondeln, die sich jeden Moment mit ihren 20 Kilo schweren Bugeisen (ferro) ineinander zu verhaken drohen, doch sich stets mit einem elegantem Ruderschlag wieder von einander lösen.

Auf der Höhe von San Silvestro schaukelt ein Polizeiboot auf den Wellen, Männer in dunkelblauen Uniformen mit viel Lametta auf Brust und Schultern versuchen, in dem schwankenden Boot stehend, würdevoll das Gleichgewicht zu wahren und sind offensichtlich damit beschäftigt, einen Herrn im dunklen Zweireiher zu eskortieren, der wohl auf hohem Besuch in der Stadt weilt. Da wo der Canal, der mitnichten an ein S sondern an ein Fragezeichen erinnert, den großen Bogen nach Süden macht, wird es ruhiger auf dem Wasser. Mit einem kleineren Motorboot werden Möbel transportiert, ein etwas größerer Lastkahn bringt eine Ladung Pressluftbohrer an ihren Bestimmungsort. Kurz vor Salute, wo wir aussteigen wollen, klumpen sich vor dem Hintergrund des weiten Bassins von San Marco die Gondeln noch einmal so sehr, dass es aussieht, als könne der Vaporetto sich seinen Weg nur bahnen, indem er sie rücksichtslos rammt, doch das ungeschriebene Gesetz auf dem Canal lautet: die Gondel hat immer Vorfahrt. Außerdem handhaben die meisten Gondoliere das auf der Forcola ruhende Ruder mit einer derartigen Kunstfertigkeit und Eleganz, dass es ihnen immer wieder gelingt, größere Motorschiffe hauchzart am Heck ihrer schwarzen Barke (lat. cymbula=gondola?) vorbei rauschen zu lassen.

Bei der Salute Kirche schräg gegenüber von San Marco gehen wir an Land. Die Basilica di Santa Maria della Salute begrüßt uns mit einer riesigen Freitreppe aus weißem Marmor und wölbt ihre vier unterschiedlich großen Kuppeln in den Himmel. Mit ihrem Bau war Anfang des 17. Jahrhunderts begonnen worden. Nach dem Ende einer Pestepidemie, die 50 000 Opfer, das war ein Drittel der Einwohner, gefordert hatte, gelobte man, hier eine Kirche zu errichten. Um des Ereignisses zu gedenken, findet jedes Jahr im November auf den Stufen der Treppe eine Dankprozession statt.

Im Reiseführer lesen wir, dass „der Architekt Baldassare Longhena ein jungfräuliches Werk, seltsam und schön, in der Form einer runden ‚Maschine’ angekündigt und nicht übertrieben“ hatte… Ähnliches Selbstbewusstsein verströmen heutige Architekten ja manchmal auch noch. Werfen wir also einen Blick ins Innere der ‚Maschine’. Der kreisrunde Raum, der von einem wunderbaren, wir nehmen an - byzantinischen - Leuchter, der von der hohen Kuppeldecke herabhängt, beherrscht wird und dessen Fußboden aus rötlichen Marmorfliesen gerade von einer Putze, die garantiert aus dem Kosovo stammt, poliert wird, ist für profane Füße abgesperrt. Unsere Augen können sich dafür satt sehen an dem barocken Geprunke aus Marmor und Gold und Weiß und dem Rot der ewigen Lichter, die überall in den Nischen flackern. Ein Halbrelief neben einem der Altäre zeigt einen glatzköpfigen Herrn im wallenden Gewand. In der rechten Hand trägt er ein Buch, darauf eine Taube sitzt. Die linke zeigt auf sein Herz, das wie ein Lebkuchenherz auf seiner Brust hängt.

Durch einen schmucklos weiß getünchten Gang gelangen wir in die Sakristei. Die ist völlig leer, nur ein melancholisch blickender älterer Herr kassiert 2 Euro 50 pro Person. Wir sind also im Herzen der Maschine, der Geldmaschine, angelangt. Er verkauft auch Postkarten, auf denen das, was es hier zu sehen gibt, reproduziert ist. An der hohen Decke hängen drei Tizians. Da ist Kain gerade dabei, seinen Bruder Abel zu erschlagen, sehr realistisch brutal, und erst nach mehrmaligem Positionswechsel unten auf der Erde erkennt man, wo bei dem Bild oben und unten ist. Auf dem anderen Gemälde will Isaak seinem einzigen Kind gerade den Kopf abschlagen. Nur ein Engel schwebt noch über ihm, und man weiß nicht, reicht er ihm oder entreißt er ihm das Schwert. Auf dem dritten Bild hat David gerade den Goliath besiegt und reckt über dessen übel zugerichteter Leiche die triumphierend gefalteten Hände gen Himmel. Im 21. Jahrhundert ist für die bildliche Darstellung derart dramatischer Ereignisse Hollywood zuständig.

Die ganze eine Längswand nimmt ein Tintoretto ein. Die Hochzeit zu Kanaan. Wo Jesus zum ersten Mal zeigte, was er konnte, indem er vor den Augen seiner Jünger und der entzückten Hochzeitsgesellschaft Wasser in Wein verwandelte. Auch wenn im Hintergrund des Bildes am entfernten Kopfende der Hochzeitstafel die durch einen dezenten Heiligenschein von den übrigen Gästen unterschiedene Gestalt Jesu zu sehen ist, kann man ohne Bedenken von einer „Hochzeit zu Venedig“ sprechen. Das Ambiente entspricht wohl eher dem Festsaal eines am Canal Grande gelegenen Palazzo der besseren Gesellschaft Venedigs um die Mitte des 16. Jahrhunderts als dem Festzelt von Nomaden im Palästina der Stunde plusminus Null. Es ist so wunderbar lebendig und realistisch gemalt, dass es das Standfoto aus einem Fellini-Film sein könnte. Um beim Betrachten der Deckengemälde eine Genickstarre zu vermeiden, liegen Spiegel bereit, mit deren Hilfe man, da sie auch eine leicht vergrößernde Wirkung haben, bequem Details der Tizians an der Decke und des Tintorettos an der Wand heranzoomen kann.

Nachdem wir uns endlich entschieden haben aufzubrechen, werden wir von dem Herrn an der Kasse zur Tür geleitet, die er sorgfältig hinter sich abschließt. Auch im großen Kuppelbau werden wir zum Portal eskortiert, das sofort hinter uns abgeschlossen wird. Endlich sind wir weg und man kann die ersehnte Mittagspause machen.

Wir setzen uns auf die Marmorstufen der Freitreppe und essen einen Apfel. In der Sonne ist es heiß, doch der Wind, der aus Osten kommt, ist unangenehm kalt. Nachdem wir einem Ehepaar aus Sachsen, das sich wegen des geschlossenen Hauptportals hilfesuchend an uns gewandt hatte, erklären konnten, dass die Basilika gerade Mittagspause macht, spazieren wir noch ein paar Schritte in Richtung Punta della Dogana, der alten Zollstation, die wie ein Schiffsbug in das Becken von San Marco hineinragt. Doch der Zugang ist mit Brettern vernagelt, das ganze Areal ist eine riesige Baustelle.

Schließlich gehen wir zurück zur Basilika, am Hauptportal vorbei und gelangen über ein weißes Brückchen mit kunstvoll geschmiedetem Geländer in das Gassengewirr des Sestiere Dorsoduro, „Harter Rücken“ deshalb genannt, weil hier die Gebäude ausnahmsweise auf festem Grund und nicht auf Pfählen im schlammigen Grund der Lagune errichtet sind.

Nachdem wir, nur unserem Instinkt folgend, um alle möglichen Ecken gebogen sind, führt eine enge, dämmrige Gasse hinaus ins ungeheure Blau und Grün und Weiß der Fondamenta delle Zattere. Die Sonne brennt von einem wolkenlosen Himmel auf die Steinplatten der Uferpromenade, und es gibt keinen Schatten. Doch der kühle Wind macht es erträglich. Das Wasser scheint aus grün gewelltem Muranoglas, das der Wind zum Funkeln bringt. Hier möchte man hinter einem der blauen oder grünen, jetzt in der Mittagshitze geschlossenen Fensterläden wohnen, zumindest während der warmen Jahreszeit und jeden Tag auf den Canale della Guidecca schauen, auf dessen grünen Wassern etwa vier- bis fünfhundert Meter entfernt wie eine Fata Morgana die Insel gleichen Namens zu schwimmen scheint, deren rostrotes Dächergewirr von Palladios mächtiger weißer Redentore Kirche überragt wird. Dahinter als blasser Dunst die Lagune mit nur noch dem Lido zwischen sich und dem offenen Meer. Wie ein Hauch streift uns das Glück des mediterranen Augenblicks, in seiner seltenen, urbanen Form.

Wir bewundern noch ein paar sehr alte, hölzerne Haustüren, die mit modernster Schließtechnik ausgerüstet sind, fotografieren uns in einer verspiegelten Tür mit dem breiten Kanal im Hintergrund, nehmen an einem schmiedeeisernen Tor, das auf den Campus der Kunstakademie führt, erschrocken das Schild wahr, auf dem steht „No Tourists“, fühlen uns daraufhin ein bisschen wie der Hund, der im Metzgerladen nicht erwünscht ist und verschwinden schließlich in der nächsten Calle, die ins Innere von Dorsoduro zurückführt. Viele Gebäude sind nicht verputzt, doch die Farben der rohen Backsteine harmonieren immer mit den verputzten Fassaden der Nachbargebäude. Keine Aufeinanderfolge, kein Ineinanderübergehen von Details gibt dem Auge jemals einen Anlass zur Ermüdung. Die größte Schäbigkeit wird fast immer zu einem unverzichtbaren Bestandteil anmutiger Schönheit. Das ist nicht steril herausgeputztes deutsches Fachwerk à la Rothenburg ob der Tauber, das hier ist ein Charme des Zerfalls, der voller melancholischer Vitalität steckt.

Viele Calli enden an einem stillen Kanal. Auf den immergrünen Wassern treiben, von den schräg einfallenden Sonnenstrahlen zum Funkeln gebracht, byzantinische Ornamente aus helllila bis dunkelviolettem Seetang, grauen Zigarettenkippen und blassrosa Blütenblättern. Auf einem winzigen Campo, wo die Hauswände von Geranien überwuchert sind, sitzt eine junge Frau, an die Mauer einer Toreinfahrt gelehnt, streckt beide Beine von sich und räkelt sich wohlig in der Sonne, während ein junger Mann ihr etwas ins Ohr flüstert und dann in einem Hauseingang verschwindet. Jede Brücke, sei sie noch so klein und namenlos, überrascht mit immer neuen Perspektiven auf das gerade eben Geschaute und fügt den drei vorhandenen Dimensionen eine nicht zu definierende, nur durch die Poren der Haut aufzunehmende hinzu, die das Zwerchfell zum Flattern bringt.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2007
 
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