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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Venedig, Mai 2007

ein Reisebericht

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An einer belebten Straßenecke, die am Trampelpfad liegt und nicht weit vom Canal Grande entfernt sein kann, ziehen wir 120 Euro aus einem Geldautomaten. In unserem Rücken kniet vor einer weißgetünchten, nachlässig verputzten Steinmauer ein altes Weiblein mit buntem Kopftuch und hält mit demutsvoll gebeugtem Rücken einen Pappbecher in den öffentlichen Raum. Ich mache ein Foto von ihr und schmeiße als Honorar 50 Cent in den Becher. In einer der Gassen verschlingen wir hungrig das Viertel einer wagenradgroßen Pizza, das für 2 Euro verkauft wird. Auf einem Schild an einer geschlossenen, blau lackierten Haustür lesen wir: team Worx, television & film GmbH, Commissario Brunetti…

Immer dem Trampelpfad nach, an Kirchen mit touristisch klingenden Namen vorbei, erreichen wir schließlich den Campo Santa Margherita. In der Mitte des länglichen, unregelmäßigen Rechtecks sehen wir ein graues, würfelförmiges Gebäude, das früher das Gildehaus der Färber und Gerber und später das Parteilokal der Democrazia Christiana war. Heute sieht es nach renovierungsbedürftiger öffentlicher Bedürfnisanstalt aus, ist es aber leider nicht. Es scheint gar keinem Zweck mehr zu dienen. Im Schatten einer Platane stehen mehrere rot gestrichene Bänke, auf denen ein paar, laut Reiseführer, „liebenswert-schrullige Anwohner“ sitzen, denen man ansieht, dass sie die Preise in den Kneipen, die in beträchtlicher Anzahl den Platz säumen, nicht bezahlen können oder wollen. Wir wollen auch nicht, müssen aber, weil wir mal müssen. Außerdem haben wir Durst. Wir setzen uns auf die Terrasse einer eher „alternativ“ aussehenden Trattoria und bestellen Prosecco und Birra. Die Atmosphäre ist angenehm relaxed, offensichtlich ist es ein Szenetreffpunkt für junge Leute, egal ob einheimisch oder Ausländer, wo der Kellner, ein spindeldürrer junger Mann, der aussieht, als habe er das letzte Drittel seiner wie auch immer gearteten Drogenkarriere erreicht, von allen geduzt wird. Nachdem wir noch das „bagno“ benutzt haben, machen wir uns wieder auf den Weg.

Unser Ziel ist wie gestern das „Chinatown“ am Canale di Canareggio. Unterwegs kommen wir an diversen Ristorantes vorbei, doch alle sehen nicht sehr einladend aus und sind obendrein teuer, so dass es nicht schwer fällt, der Versuchung, uns irgendwo niederzulassen, zu widerstehen. Nachdem wir am Campo San Pantalon den vom Dachfirst bis zum Boden reichenden, zickzackförmigen, handbreiten Riss in der grauen, waschbrettartig geriffelten Fassade der Kirche San Pantalon bewundert haben, gelangen wir in eine dämmrige Calle, wo in kleinen Läden noch die echten venezianischen Karnevalsmasken in Handarbeit hergestellt werden. Vor einem der Lädchen eine Schaufensterpuppe mit der Maske des Pestarztes, das ist die mit dem langen gebogenen Vogelschnabel, der zu seiner Zeit eine durchaus wichtige Funktion hatte, denn in ihm hatte der Arzt, der ansonsten nur noch mit einem Holzstöckchen zum Lupfen der Bettdecke ausgerüstet war, desinfizierende aromatische Kräuter aufgeschichtet, die verhindern sollten, dass er sich selbst ansteckte.

RR: Die Chefin des Chinatown erkennt uns sofort wieder und lacht übers ganze Gesicht. Wir bestellen Porc mit Vegetables und Scampi mit Gemüse, vorher einen großen Salat, dazu Vino, Wasser, Espresso und bezahlen für alles 23 Euro 50!

Auch heute schlurft der Mann mit den zwei Hunden vorbei. Er wohnt offenbar gleich um die Ecke, und wir haben das Gefühl, wenn wir Morgen wieder hier sitzen, werden wir uns freundlich zunicken.

Nachdem wir lange genug unter dem knallblauen Himmel gesessen und den lästigen Ostwind ertragen haben, fahren wir zur Fondamente Nuove. Dort stellen wir fest, dass es schon zu spät ist, um heute noch nach Burano weiter zu fahren. Deshalb nehmen wir den Vaporetto nach Murano, der als nächste Haltestelle San Michele, die Friedhofsinsel anfährt, wo wir aussteigen. Ein Schild am Eingangstor besagt, dass der Friedhof um 18.00 Uhr geschlossen wird. Es ist 17.30 Uhr, und da der Vaporetto ohnehin weg ist, beschließen wir einen kurzen Rundgang. Vorbei an ca. drei bis vier Meter hohen, etwas verwitterten, mit bunten Plastikblumen geschmückten weißen Mauern, die die Urnen oder Särge beherbergen, finden wir im hintersten Teil des Friedhofs eher zufällig das Grab Diaghilev’s. Auf dem Gedenkstein liegen diverse, immer noch sehr grazil wirkende Tanzschuhe, verwelkte Blumen sowie ein Strohhut. Da die Durchsage kommt, dass der Friedhof schließt, schlendern wir zum Ausgang zurück und nehmen uns vor, noch einmal wieder zu kommen und dann auch Strawinsky zu besuchen.

KB: Während wir als die einzigen Fahrgäste auf den Vaporetto nach Murano warten, hören wir hinter uns immer noch die schauerliche Lautsprecherstimme, die in mindestens einem Dutzend Sprachen monoton die Aufforderung wiederholt, den Hades zu verlassen. Und wir können nicht umhin uns vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn wir ungewollt die Nacht auf dieser Insel der Toten verbringen müssten…

Auf Murano hatten wir gestern in der Nähe der Station Museo das Schild eines Coop Supermarktes gesehen. Da Morgen Feiertag ist und wir nicht wissen, wie bürokratisch die Italiener die Ladenschlusszeiten handhaben, wollen wir noch etwas einkaufen. Es ist gegen halb sieben, als wir dort ankommen, und noch herrscht an den Kassen reger Einkaufstrubel. Wir kaufen eine Flasche Stock Brandy, eine Literflasche Bardolino mit Schraubverschluß und Käse (Provolone valpadano).

Nachdem wir unseren Einkauf im Rucksack verstaut haben, wollen wir draußen vor dem Coop in der einzigen Kneipe weit und breit noch etwas trinken, doch man klappt gerade die Stühle und Tische zusammen. Dass auf Murano „ständig eine griesgrämige Stimmung von frühem Ladenschluss in der Luft hängt“, wie James Morris beobachtet hat, können wir trotzdem nicht bestätigen, uns ist eher aufgefallen, dass sowohl die Gesichter der Kunden wie auch der Angestellten nicht diesen Ausdruck von widerwilliger Gereiztheit zeigen, den man in Frankfurter Supermärkten beobachten kann, hier ist eine freundliche Gelassenheit vorherrschend, die sogar einen kleinen Flirt zwischen der attraktiven jungen Mama und dem adretten Fleischverkäufer zulässt. Man zeigt nicht offen, dass man sich vom Kunden gestört fühlt, und der Kunde fühlt sich nicht als unerwünschter Eindringling. Da wir Durst haben, renne ich noch mal in den Markt zurück und hole ein paar Flaschen kaltes Wasser und zwei Büchsen eiskaltes Heineken Bier für die Rückfahrt. Als ich zu RR zurückkomme stellen wir fest, dass sie direkt neben einem Brunnen steht, aus dem kühles Trinkwasser hervorsprudelt.

Auf dem Rückweg zur Piazzale Roma stehen wir im Heck des Dampfers und sehen, wie auf der Fondamenta di Cannaregio im Gegenlicht der tief stehenden Sonne das Grün einer Markise zärtlich mit den abendlichen Lederfarben der alten Gebäude kokettiert und ein einzelnes Fenster wie ein Spiegel die Lichtmoleküle bündelt und zum Strahlen bringt. Es ist gerade mal 19.00 Uhr, doch die Ufer sind fast menschenleer, auch auf dem Wasser ist kaum noch Verkehr. Die Brücke mit den drei Bögen überspannt in erhabener Einsamkeit das goldfarbene Wasser des Kanals. Auch auf dem kurzen Stück Canal Grande bis zur Piazzale Roma ist keine einzige Gondel zu sehen. Venedig geht schlafen. Dafür ist in der Vorhölle des Busbahnhofs der Bär los. Es ist dickster Berufsverkehr und die Busse sind knallvoll.

Da ich den ganzen Tag widerliche Nackenschmerzen gehabt hatte, gehe ich mit manischer Besessenheit daran, alle Hässlichkeiten der Piazzale Roma zu fotografieren, als ob ich mir dadurch Genugtuung für die heute erlittenen Schmerzen verschaffen könnte. Auf einem erhöhten Rondell mit kümmerlichen, verstaubten Bäumen, das die Piazzale vom Kanalvenedig trennt, sitzt ein Penner auf einer der Bänke und versucht vergeblich, seine Hosen hochzuziehen. Ein japanischer Tourist sortiert seine Photoausrüstung. Meine Frau sitzt auf der Bank mir gegenüber und liest im Reiseführer. Ich könnte den ganzen Busbahnhof und mich dazu in die Luft sprengen.

Aus dem Bus heraus fotografiere ich mit nicht nachlassender manischer Intensität die Industrieanlagen von Marghera und delektiere mich mit masochistischer Freude an der Hässlichkeit der Welt. Wir sind gegen halb neun im Hotel, wo ich versuche, mich ein bisschen zu entspannen. Zum Glück gibt es in der Glotze ein Fußballspiel. Zwei spanische Mannschaften spielen um den Cup der Vereinigung der europäischen Margarineproduzenten. Ich schlucke Novalgin und Aspirin und Brandy und Rotwein und starre auf den Bildschirm. Irgendwann fühle ich mich etwas besser, und wir liegen um halb elf im Bett.

DO 17.5.07. Himmelfahrt
Morgens ist es recht kühl, der Himmel ist bedeckt, doch man ahnt, die Sonne lauert hinter den Wolken. Wir schaffen den Bus um kurz nach zehn. Ich habe heute Schmerzmittel dabei und hoffe, dass es erträglich wird. Auf der Piazzale Roma kaufen wir als erstes die Bustickets für Morgen früh zum Flughafen. Dann fahren wir mit der Linie 42 zur Fondamente Nuove, wo die Fähren nach Burano und Torcello abgehen.

Das Schiff ist größer als die Vaporetti, die auf dem Canal Grande verkehren. Trotzdem gibt es in der geräumigen Fahrgastkabine kaum noch freie Sitzplätze. Offensichtlich will alle Welt den Feiertag auf Burano verbringen. Bei dieser Gelegenheit widerfährt uns sogar die Ehre, dass ein Schaffner unsere Tickets kontrolliert.

Mir gegenüber sitzt ein reizendes, älteres englisches Ehepaar. Ich schätze beide auf 75 plus. Er hat einen edlen Spazierstock mit Klappsitz dran, sie einen zusammengerollten Schirm in der Hand. Den Kopf leicht gegen ihr Ohr geneigt spricht er mit halblauter Stimme auf sie ein. Mehr als dass sie nach Torcello wollen, kann ich den Gesprächsbrocken, die durch das Dieselgegurgel an mein Ohr dringen, leider nicht entnehmen. Ich vermute, dass sie nicht zum ersten Mal diese Fahrt machen, wahrscheinlich ist es ein nostalgischer Ausflug in die Vergangenheit, denn jedes Mal wenn der alte Gentlemen der aufmerksam lauschenden Gattin etwas ins Ohr flüstert, überzieht ein verklärtes Leuchten ihr faltiges, immer noch schönes Gesicht. Dabei lächelt sie ihn mit strahlenden Augen an, dass er sich für einen Moment verlegen abwendet, wobei sein rosiges Gesicht mit dem runden Mündchen eine leichte Purpurfärbung annimmt.

Da die Fenster, wie bei allen Vaporetti, völlig verdreckt sind und daher nur einen sehr vagen Blick nach draußen erlauben, gehe ich nach vorn und lasse mir den Lagunenwind um die Nase wehen. Das erste, was man von Burano erblickt, ist ein abenteuerlich schiefer Campanile, der wie ein angespitzter, schräg stehender Bleistift in den wassergrauen Himmel ragt.

Nachdem wir an Land gegangen sind, nehmen wir Platz auf der Terrasse eines Imbiss in der Nähe des Landungsstegs, wo uns ein dickliches Mädchen etwas, das entfernt an einen Sandwich erinnert und zwei Cappuccino serviert. Dann hält sie sehnsüchtig Ausschau nach dem nächsten Kahn, von dessen Passagieren bestimmt wieder zwei oder drei hier hängen bleiben werden. Als die Leute, die mit uns gekommen sind, sich einigermaßen verlaufen haben und das nächste Boot schon Kurs auf die Anlegestelle nimmt, machen auch wir uns schleunigst auf die Socken.

Durch ein vor Sauberkeit glänzendes Gässchen, wo winzige Lädchen die einheimische Spezialität, merletti, handgeklöppelte Spitzen, anbieten, gelangen wir an einen Kanal, an dessen Ufern sich Kneipe an Kneipe reiht, deren Terrassen fest in der Hand fressender Franzosen sind. Die Luft über den quietschebunten Häuschen ist angefüllt von einem behaglichen Schmatzen. Wenn Venedig Große Oper ist, dann ist Burano eine Opera buffa. Und wirklich hat hier im 18 Jahrhundert ein Baldassare Galuppi gelebt, der federleichte Operetten geschrieben haben soll.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2007
 
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