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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Venedig, Mai 2007

ein Reisebericht

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Wir überqueren die Piazza, die nach dem großen Sohn der Stadt benannt ist, bewundern den, je weiter wir uns von ihm entfernen immer schiefer werdenden Campanile der Kirche San Martino und finden uns schließlich an einem Kanal wieder, dessen Ufer verlassen in der Mittagssonne daliegen. Vor den Hauseingängen der niedrigen Fischerhäuschen, die selten mehr als ein Stockwerk haben, hängen Bahnen aus bunt gestreiftem Markisenstoff, um die Bewohner vor neugierigen Blicken zu schützen. Zwei Katzen liegen auf den wie gebohnert aussehenden Steinplatten in der Sonne und ignorieren uns mit souveräner Gelassenheit. Auf der anderen Kanalseite ein durch ein hohes Eisengitter vom Wasser getrennter Schulhof mit einem Schatten spendenden Baum in der Mitte. Alle Kinder haben weiße Kittelchen an (wahrscheinlich ist hier gar kein Feiertag) und lassen die Luft von fröhlichem Pausengeschrei erzittern. Das Wasser des Kanals ist so glatt, dass die Gebäude und der Himmel sich darin spiegeln. Die gegenüber dem Schulhof zum Trocknen aufgehängten Fischernetze künden davon, dass neben der Klöppelei und dem Tagestourismus, die Fischerei immer noch eine der Haupterwerbsquellen ist.

Nachdem wir eine Brücke passiert haben, wo uns eine elektrische Hebevorrichtung für Rollstuhlfahrer auffällt, in Venedig hatten wir darauf noch gar nicht geachtet, suchen wir unseren Weg zurück zur Anlegestelle durch freundliche, leere Gässchen, wo tizianrote neben babyblauen, giftgrüne neben kanariengelben, ockerfarbene neben lila Fassaden stehen. Im freien Raum zwischen ihnen flattert Wäsche im Wind.

Da wir noch einmal in Ruhe den Friedhof auf San Michele anschauen möchten, steigen wir in Murano beim Leuchtturm aus, dem einzigen Halt zwischen Burano und Fondamente Nuove. Nach einigen hundert Schritten erreichen wir den Rio dei Verrai, wo wir uns auf der Terrasse einer Trattoria niederlassen und Prosecco bestellen. Der Wirt sieht nach Halsabschneider aus, und wir werden nicht enttäuscht, für ein Gläschen Venetobrause kassiert er 3 Euro fuffzich. Auch der Sandwich, der am Nebentisch serviert wird, sieht nicht sehr verlockend aus und kostet bestimmt das Doppelte wie in San Marco.

RR: Die Kneipe, vor der wir sitzen, liegt direkt neben einer Brücke aus Stein. Ein Schild weist darauf hin, dass das Picknicken auf den Brückenstufen verboten ist, wo sich eine junge Frau mit einem Kleinkind niedergelassen hat, das sie füttert. Der Papa steht mit dem Kinderwagen daneben und schaut zu. Es sind offenbar Muslime, denn die Frau trägt ein Kopftuch in der Art, wie ich es von Frankfurt her kenne. Es ist die erste Frau mit Kopftuch, die wir in Venedig sehen. Kurz darauf geht eine weitere Frau - ebenfalls mit Kopftuch - vorbei. Ganz in der Nähe der Vaporetto-Station sitzen die Mitglieder einer arabischen Großfamilie auf der niedrigen Kaimauer, die Männer in blendend weiße Djellabas, die Frauen in dezente orientalische Stoffe gehüllt, unter denen europäische Accessoires von Prada oder Gucci hervorlugen. Sie sind mit Schmuck behängt, der bestimmt nicht aus buntem Muranoglas ist.

KB: Auf San Michele können wir uns heute Zeit lassen. Wir schauen in einige der Privatgruften hinein, deren kreisrunde Anlage den vorderen Teil des Friedhofs beherrscht. Manche der schmiedeeisernen Gittertore stehen offen. Andere sind verrammelt oder milchverglast. In den offenen sieht es sehr unaufgeräumt aus, da sich wahrscheinlich niemand mehr darum kümmert. Aus einstmals mit Samt bezogenen Betstühlen quillt die Füllung, auf den Marmorengeln liegt fingerdick Staub, es riecht nach verwelkten Blumen und vergangenen Zeiten. In den meisten Gruften liegen mehrere Generationen gleichen Namens. Man sieht auf Fotos würdevolle Matronen mit hochgeschlossenen, viktorianischen Spitzenkragen und Männer mit Ehrfurcht gebietenden Seehund- oder auch Kinnbärten, die auf „Vatermörder“ herunter hängen.

An den Kreis der Gruften schließt sich der militärische Teil des Friedhofs an. Hier sind vor einem beeindruckenden Hintergrund aus düster in den Himmel züngelnden Zypressen alle Kriegsschauplätze der letzten hundert Jahre in Holzkreuze gebrannt. Und unverrottbare bunte Plastikblumen geben tröstliche Kunde vom ewigen Leben.

Ganz am Ende des Friedhofs am Fuße einer Ziegelmauer, unweit von Diaghilew’s Tanzschuhen, finden wir die Gräber von Igor und Vera Stravinsky. Hier gibt es keine Plastikblumen, auf Igors Grabplatte liegt eine angewelkte weiße Rose. Direkt hinter der Mauer wird gebaut, und nicht unerheblicher Baulärm stört die Totenruhe. Was da gebaut wird, ist nicht zu erkennen, wahrscheinlich ein neues Beinhaus, da in dem alten kein Platz mehr ist, und man die Knochen schlecht einfach ins Wasser kippen kann.

Auf dem Weg zum Ausgang kommen wir am Recinto VIII Bambini, also der Abteilung für Kinder vorbei, die zum Glück nur aus einer kurzen Reihe Gräber besteht. Manche der Kinder haben nur einen Tag gelebt. Wir sind erschüttert, als uns von einem Grabstein das Foto eines knapp sechsjährigen Jungen anschaut, „in dessen Augen man noch den unsichtbaren Fußball sieht…“

Es ist früher Nachmittag, als wir den Friedhof verlassen und zur Fondamente Nuove zurück fahren. Wir haben Hunger und Durst, Beine und Füße sind müde, mein Nacken schmerzt so, dass ich das tiefe Röhren des Dieselmotors während des An- und Ablegens wie einen Stromstoß durchs Rückgrat rasen fühle.

Irgendwie haben wir nur noch das Bedürfnis, etwas einigermaßen Anständiges zu essen und dann den Tag beschaulich ausklingen zu lassen. Gleich in der Nähe der Vaporetto-Station werfen wir einen Blick in eine Pizzeria, aber die dort auf der Theke liegenden Pizzen sind von einer Farbe und Konsistenz, dass uns der Appetit für eine Weile vergeht und wir beruhigt weiter suchen können. Alle Ristorantes im Sestiere Castello, das wir in Richtung Rialto, San Marco durcheilen, sind uns entweder zu klein oder zu groß, zu schattig oder zu sonnig, zu laut oder zu teuer.

Wir haben so lange an allem etwas rumzumäkeln bis wir urplötzlich wie die letzten Deppen in der Touristenfalle am Canal Grande stehen und das Gewimmel um uns herum und auf der Rialtobrücke betrachten, die aussieht, als wäre sie eine Kulisse aus Pappmaschee, auf die man hunderte von unscharfen Fotografien menschlicher Gesichter geklebt hat.

Bei uns ist jetzt endgültig die Luft raus. Wir haben nur noch tierischen Hunger. Preise und Qualität sind uns plötzlich egal, darauf haben wir heute genug geachtet, jetzt ist dafür keine Zeit mehr. Der nächste Groß-Imbiß ist zwei Schritte entfernt. Am Pizza-Schalter kaufen wir zwei Stück Pizza mit Pilzen, die Portion für 4 Euro. Unsere Zähne haben gerade einen ersten Kontakt mit den appetitlichen Teigfladen gehabt, als wir bemerken, dass es neben der Pizza-Abteilung noch eine lange Selbstbedienungstheke gibt. Davor Tische und Bänke mit Bezügen aus rotem Kunstleder. Wir brauchen also nicht im Stehen zu essen. Der ziemlich große Speisesaal ist fast leer, nur am Nebentisch ist eine japanische Großfamilie gestrandet. Nachdem wir mit der Pizza fertig sind, haben wir immer noch Hunger. RR holt sich einen winzigen Salat und ein Wasser für zusammen 5 Euro zehn, ich leiste mir eine kleine Portion Lasagne für 8 Euro. Wir hatten diese Nepp-Erfahrung zwar nicht unbedingt machen wollen, doch irgendwie, so trösten wir uns, gehört sie bei einem Venedigbesuch dazu.

Es ist kurz nach fünf Uhr als wir auf der Piazzale Roma ankommen. Da wir den Abend nur ungern auf der Terrasse der Villa Gasparini verbringen wollen, beschließen wir, in der Nähe noch eine Kneipe zu suchen, wo wir draußen sitzen und etwas trinken können. Also gehen wir den selben Weg wie am ersten Abend, an den gelangweilten, geringelten Gondolieri vorbei, über das weiße Brückchen, durch den winzigen Park und sind nach wenigen Schritten auf der Fondamenta Minotto, wo wir am Montag, wir wissen nicht, ist das ein Jahr, ein Monat oder erst ein paar Tage her, zum ersten mal die Bühne Venedig betreten hatten.

Vor der Pasticceria La Bauta stehen einige Tische und bequeme Stühle, dort wollen wir uns ausruhen und von der charmanten Wirtin Prosecco servieren lassen. Wir strecken die Beine von uns, schauen aufs grünliche Wasser, die Glocken der umliegenden Kirchen läuten, am Nachbartisch wird gefränkelt, dynamische junge Herren mit breiten Krawatten und lässig über den Arm gelegtem Jackett, Aktenkoffer an der Hand, schlendern an unserem Tisch vorbei in Richtung Busbahnhof.

Wir sind angenehm erschöpft, wie nach einer harten, aber erfolgreich zu Ende gebrachten Arbeit, und wir merken, dass der Zauber des ersten Abends uns langsam einzuholen beginnt und wie ferner Widerhall einer alten Musik in uns nachklingt.

Damit der Abschied nicht zu schwer fällt, philosophieren wir ein bisschen über die auffällige Gelassenheit der Venezianer und sind geneigt, sie darauf zurückzuführen, dass sich ein großer Teil des alltäglichen Lebens mit meist vorindustrieller Geschwindigkeit auf dem Wasser abspielt. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Venedig eine der aggressionslosesten Städte ist, die wir kennen.

Außerdem fragen wir uns, mehr oder weniger ernsthaft, ob es untrügliche Merkmale gibt, an denen man die Einheimischen erkennt. Sie trägt auf jeden Fall Stöckel und klappert mit lässiger Eleganz über die glatten Steinplatten der Kanalufer, er trägt Anzug und Krawatte und einen schwarzen Aktenkoffer und liest, während er, im Traghetto stehend, den Canal Grande überquert, demonstrativ den Gazettino.

Wir fragen uns auch, wie leben Kinder in Venedig? Haben wir überhaupt welche gesehen? Bis auf die im Kittelchen auf Burano eigentlich keine. Auf den fast dreihundert Fotos ist kein einheimisches Kind zu sehen. Doch: im Ghetto vecchio sahen wir eine junge Frau mit Kinderwagen in eine Gasse einbiegen.

Schließlich fragen wir uns, wie leben Katzen in Venedig? Bekommen sie Futter aus der Dose? Oder frühstücken sie morgens in der Nähe des Rialtomarkts, essen zu Mittag hinter den Abfalltonnen einer Trattoria in Cannaregio, stellt man ihnen zum Abendessen in San Marco ein Schälchen mit Leckereien vor die Tür? Haben sie einen festen Wohnsitz oder leben sie frei in diesem Katzenparadies?

Auf jeden Fall sind wir uns darüber einig, dass man sich Venedig „verdient“ haben muss. Man sollte nach Möglichkeit jenseits der Fünfzig sein und sich selbst einigermaßen kennen und von der Welt ein bisschen was gesehen haben, ehe man sich daran macht, diese Stadt und vielleicht auch einen unbekannten Teil von sich selbst zu entdecken.

Als wir gehen wollen, biegt noch einmal die Gondelparade um die Ecke des Kanals. Der Gondoliere rudert, der Dicke mit der asthmatischen Stimme singt O sole mio, die Fahrgäste sitzen, das Weinglas in der Hand, entweder in ergriffenem Schweigen oder rufen blöde Bemerkungen zum Kanalufer hinauf, wenn sie andere Teilnehmer ihrer Reisegruppe entdeckt haben. Es ist alles ein bisschen peinlich, doch wir wissen jetzt: Tausend Tonnen Kitsch können den genialen Funken nicht ersticken, für den diese Stadt Zeugnis ablegt, solange sie stehen wird.

Als wir im Bus nach Dolo sitzen, ist Wehmut und eine diffuse Sehnsucht in uns. Wir ahnen, es ist eine Sehnsucht, die nie zu stillen ist, ob man in Venedig lebt oder nicht. Es ist die Sehnsucht nach einer Welt vor dem Sündenfall. Und wir wissen auch, es gibt nur wenige Orte auf unserem Planeten, die es vermögen, diese Sehnsucht zu wecken.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2007
 
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