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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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[Kerala 2004 - Seite 23/39]

Monsunregen nieder, der die Wege rings um den Tempel unter Wasser setzte und den Lateritstaub in roten Schlamm verwandelte. Auf der Bühne waren Vereinsmitglieder damit beschäftigt, die elektrische Anlage zu improvisieren. Nackte Drahtenden wurden miteinander verknotet oder in Steckdosen versenkt. Am vorderen Bühnenrand turnte ein Mensch im Mundu auf zwei übereinandergestellten Klappstühlen herum und versuchte, den Halogenstrahler, der an der Vorhangstrippe befestigt war, in die richtige Position zu bringen. Ein anderer war bemüht, dem staubigen Mikrofon und den angeschlossenen Lautsprechern Töne zu entlocken. Rechts von der Bühne wickelte man um eine dicke, glänzend lackierte Holzsäule etwas, das wie ein Kranz weißer Damenbinden aussah. Zwei Männer waren damit beschäftigt, in aller Seelenruhe und sehr sorgfältig jedes einzelne Teil fächerförmig auseinanderzuzupfen. Später sahen wir, dass dieser fächerförmige Gürtel in Hüfthöhe die Kostüme der Darsteller zierte.

Inzwischen war es schon nach fünf. Der Vereinsvorsitzende hielt eine wohlklingende, nicht allzulange Begrüßungsrede, dann nahmen im Bühnenhintergrund drei Trommler ihre Plätze ein, auf der linken Seite saßen zwei Frauen mit Zimbeln, rechts am Mikrofon begann der, wie wir von PM erfuhren, auch im Westen bekannte Tanzdrama-Regisseur G. Venu einen Einführungsvortrag über das heutige Stück. Eine Tänzerin ohne Kostüm und Maske führte die verschiedenen Gesten, Gesichtsausdrücke, Handbewegungen und Tanzschritte vor. Faszinierend. Wunderschön. Aber die Geschichte, die erzählt werden sollte, schien eine unendliche zu sein. Als die Aneinanderreihung wohlklingender, weich dahingehauchter Vokale, aus denen das Malayalam besteht, mit einer letzten dramatischen Senkung der Stimme zu Ende war, verkündete G. Venu, sich höflich an PM und uns wendend, dass er das ganze, wenn auch etwas gekürzt, auf Englisch wiederholen werde. Waren wir glücklich! Sein Kerala-Englisch war kaum besser zu verstehen, als vorher das Malayalam; so saßen wir still und gottergeben auf unseren Klappstühlen in der ersten Reihe und versuchten den Eindruck zu erwecken, als ob wir aufmerksam zuhörten. So viel zumindest bekamen wir mit, dass es in dem Stück darum ging, darzustellen, wie der indische Tanz auf die Erde gekommen war...

Vor der Bühne turnte währenddessen der betont westlich gekleidete Lokalreporter einer Tageszeitung herum, der dem inzwischen auf zwölf Personen angewachsenen Publikum demonstrierte, welche gewagten Positionen man einzunehmen bereit sein mußte, wollte man gute Fotos machen. Auch für ihn schien Kutiyattam nicht Teil des alltäglichen spirituellen Lebens zu sein. Später kam noch ein Kamerateam des Fernsehens dazu, für das die Tatsache, dass drei europäische Zuschauer in der ersten Reihe saßen, wichtiger war als das, was auf der Bühne passierte. Wir wurden gründlich von allen Seiten abgelichtet und waren bemüht, den potentiellen Zuschauern der abendlichen Kerala-Rundschau den Eindruck zu vermitteln, dass wir hingerissen waren von so viel Hochkultur. Ich fühlte mich währendessen wie eine Monsunwolke, die trächtig und ständig Wasser absondernd über einer Plantage von Kokospalmen trieb.

Es war schließlich halb Sieben, als der badehandtuchgroße, glänzende Vorhang von zwei Männern auf die Bühne getragen wurde. Im Hintergrund standen zwei in Holzgestellen fest eingebaute Mizhavus, an bronzezeitliche Öl- oder Weinkrüge erinnernde, kupferne Trommeln, die als heilige Instrumente galten und bis vor kurzem nur von Mitgliedern einer bestimmten Kaste vor ausgewählten Zuschauern aus den obersten Kasten und nur innerhalb des Tempels gespielt werden durften. Kutiyattam war die über 3000 Jahre alte, archaischere Form des Kathakali, das aus ihm vor 400 Jahren hervorgegangen war. Im Unterschied zum Kathakali wurden im Kutiyattam Frauenrollen von Frauen getanzt. Ein einziger Akt konnte zehn Nächte dauern, das ganze Stück vierzig. Geduld und Ausdauer waren also mitzubringen.

Nach etwa anderthalb Stunden faszinierendem Tanztheater tat uns der nicht ausreichend trainierte Sitzmuskel weh. Die sehr schön geschminkte Darstellerin hatte eine halbe Stunde damit verbracht, durch stilisierte Bewegungen von Händen und Armen, durch trippelnde Tanzschritte, durch verzücktes Augenrollen und ekstatisches Hochziehen der Augenbrauen das Fallen eines Blattes zu beschreiben. Die folgende Stunde war damit draufgegangen, dass sie dem männlichen Darsteller ihre Liebe erklärt hatte, die der heftig zurückerwiderte. Herausragend und die Darbietung auch für europäische Zuschauer spannend machend waren die beiden Mizhavu-Spieler und der Mann, der die mit gebogenen Hölzern geschlagene Chenda spielte. Nach gut vier Stunden meinte schließlich der wesentlich besser trainierte PM, dass wir ein Recht hätten, erschöpft zu sein und schlug vor, nach Hause zu fahren, wo wir um halb elf ins Bett fielen.
Athirappilly Water Falls
Gegen elf Uhr saßen wir im Landrover. Wir fuhren ein Stück auf dem ‚Highway’ in Richtung Süden und bogen dann auf ein schmales Sträßchen ab, das nach Osten in die Pampa führte. In der Ferne sahen wir die Bergkämme der Western Ghats, über denen schwere Monsunwolken hingen, deren Wassermassen die Sonnenstrahlen wie ein Brennglas bündelten und auf den schwarzen Landrover niederkrachen ließen. Wir fuhren durch eine Landschaft, die uns suggerieren wollte, es sei ein Film, der vor uns ablief. Doch die holprige Straße sorgte dafür, dass wir uns nicht allzu bequem in die Polster zurücklehnen konnten. Obwohl Dunstschwaden aus der üppig grünenden Vegetation aufzusteigen schienen, war die Sicht völlig klar. Wir hatten endlich, was wir seit zwei Wochen suchten: Natur. Und nicht nur als kaum wahrnehmbare Hintergrundkulisse einer endlosen Aneinanderreihung menschlicher Behausungen, sondern als weite Bühne eines wortlosen Dramas, wo sowohl der Hauptdarsteller Leben als auch sein Widersacher in die verschiedensten Nuancen der Farbe Grün gekleidet waren. Wir waren hingerissen. Was wir aufgrund der Erfahrungen der letzten beiden Wochen nicht für möglich gehalten hätten, zwischen zwei Dörfern gab es etliche Kilometer unbebauten Landes. Je dünner die Besiedlung wurde, desto schlechter wurde die Straße. Je schlechter die Straße wurde, desto mehr jubilierte es in uns. Endlich durften wir der Natur an den Busen grapschen.

Der Naturgenuß wäre schier nicht zu ertragen gewesen, hätten nicht alle fünfhundert Meter am Straßenrand riesige Reklamewände gestanden, die auf zwei Freizeitparks aufmerksam machten, denen wir uns offensichtlich näherten. Der eine nannte sich Dream Land, der andere Water Paradise. Auf dessen Plakat sah man eine westlich gekleidete indische Familie bis zum Bauchnabel im Wasser stehen. Etliche hundert Meter weiter endete die Straße vor einer Schranke, hinter der das gebührenpflichtige Gelände der Athirappilly Water Falls begann. Die Luft um uns war berauscht von fallenden Wassern. Wir sahen die üblichen Palmblattbuden am Straßenrand, wo man Kokosnüsse, Limonade und Tierstimmenpfeifen kaufen konnte. Als PM vom Kassenhäuschen zurück kam, hielt er vier verschiedenfarbige, ausgiebig gestempelte Dokumente in je dreifacher Ausfertigung in der Hand, die dazu berechtigten, das Auto zu parken, die Wasserfälle zu besichtigen und den Picnic Spot zu benutzen.

In einer verräucherten Garküche aßen wir das einfache, auf einem Edelstahltablett servierte Meal, Reis mit vegetarischer Kokospampe. Das Ganze kostete achtundfünfzig Rupien für drei Personen. Das waren ca. neunzig Cent. Zum Händewaschen hing in einer Ecke ein Waschbecken an der Wand, daneben auf einem Hocker ein Eimer mit Wasser und eine Blechbüchse zum Schöpfen.

Ehe wir den steinigen, ziemlich steilen Weg, der durch lichten Urwald zu den Wasserfällen führte, betreten durften, mußten wir einem streng blickenden Uniformierten sämtliche gestempelten Dokumente vorweisen. Es herrschte reger Verkehr auf dem Weg. Indische Familien schleppten Reisetaschen und Körbe mit Fressalien für’s Picnic. Außer uns gab es noch eine einzige weiße Touristin, die entweder mit einem Linienbus oder einem der Hotel-Kleinbusse gekommen war. Ansonsten war es wohl ein beliebtes Weekend-Ausflugsziel für die einheimische Mittelschicht, die sich eine Fahrt hierher leisten konnte. Als der Weg zu Ende war, öffnete sich ein weites Dschungelpanorama mit dem grünen Fluß ohne Namen als Hauptdarsteller, der gewaltige Gischt versprühend die etwa zwanzig Meter hohen Klippen hinabdonnerte. Im Hintergrund auf der anderen Seite des Flusses die mit immergrünem Regenwald bewachsenen, steilen Hänge der Western Ghats. Wären nicht die vielen bunten Saris und Mundus gewesen, die auf den glatten Felsen lagerten, es hätte der erste Morgen der Schöpfung sein können. Hier hätte ich, verborgen unter den weit in den Fluß hineinragenden Ästen eines tropischen Baumes sitzen und der Göttin der Morgenröte, falls es so etwas unter den zweitausend Gottheiten Indiens gab, in aller Unschuld beim morgendlichen Bad zuschauen mögen.

An der Souvenirbude vorbei, um die sehr dekorativ eine Herde Rhesusaffen kapriolte und nach Bakschisch in Form von Gummibärchen oder Erdnüssen verlangte, führte ein Pfad am Flußufer entlang in den Dschungel. Nach hundert Metern hörte er auf, mit Steinplatten belegt zu sein und wurde ursprünglich. Während dieser hundert Meter sahen wir einen uniformierten Tourist Ranger hinter uns her schlendern, der darüber wachte, dass wir nichts Verbotenes taten. Wo sich das Ufergrün öffnete, konnten wir über runde glattgeschliffene Felsen, die an versteinerte Krokodile erinnerten, bis fast in die Mitte des grüngrauen Flusses hüpfen. Auf manchen der Felsen lagen junge Männer und ließen das Wasser über ihre Körper laufen. Einige hatten es sogar gewagt, sich bis auf die Unterhose auszuziehen. Frauen sah man nur in Ufernähe höchstens bis zu den Knien, den Sari züchtig gerafft, im Wasser stehen. Wieder

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