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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Aquitanien 1999

ein Reisebericht

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Lothringen, Chartres, Loire, Côte d’Argent, Béarn, Lourdes
 

Es schüttet wie aus Kübeln, und wir beschließen, eine Runde durch die Landes zu machen. Pinienwälder. Heide. Erika. In der tropfnassen Version. Ohne die Pinien würden wir uns manchmal in der Lüneburger Heide wähnen. In verschnarchten Ortschaften rütteln wir an Kirchentüren. Alle zu. Auch wenn wir verspätete Jacobs¬pilger sind, wollen wir doch nicht immer den Pfaffen oder die Sekretä¬rin des Bürgermeisters aus dem Bett jagen, um an die Schlüssel zu kommen. Also muss manches Kirchlein auf unseren Besuch verzichten. Den Kopf einziehend, um nicht an den Himmel zu stoßen, gelangen wir in das Örtchen Lévignaqc (aqc wie aqua !). Von den 342 Einwohnern ist keiner zu sehen. Doch die Kirche ist offen. 14. Jahrhundert. Während der Revolution zerstört. Bemalte Holzdecke aus dem 18. Jahrhundert. Ölschinken an den Wänden, wo die Protagonisten in Verzückung die Augen himmelwärts drehen. Üppig vergoldeter Altar. Eine hübsche Maria im Seiten¬schiff. All das registrieren wir im Halbdunkel. Dann macht es plötzlich KLACK und die Kronleuchter gehen an. Dieses Kästchen neben dem Haupteingang hatten wir auch bemerkt. Pour L'Eclairage de l'église 10 FF svp. Um etwas sehen zu können, was man lieber nicht so genau sehen will, muß man 10 Francs in einen Automaten schmeißen, damit die Kronleuchter angehen... Ein pensio¬nierter französischer Oberstudien¬rat mit Gattin hatte das getan, und uns bleibt nichts anderes übrig, als vor dieser nun gnadenlos ausgeleuchteten, schäbigen Herrlichkeit wieder unter den grauen aquitanischen Himmel zu flüchten, wo unser Opel vor sich hin rostet. Vorher schreiben wir noch einen Spruch auf, der - was wir ohne das Licht der Kron¬leuchter übersehen hätten - ein verstaubtes Fresco über dem Ausgang ziert:
Le temps fuit
Die Zeit vergeht
La concience crie
Das Gewissen schreit
La mort menace
Der Tod droht
Le ciel sourit
Der Himmel lächelt
L'enfer gronde
Die Hölle grollt
Et l'homme dort
Und der Mensch schläft

Neben der Kirche ein WC - Maria sei Dank! Davor eine Gipsma¬donna, wie sie auch in den Nachbarorten rumsteht. Mit blau bemaltem Rosen¬kranz überm Hüftschwung. Das Original sehen wir dann in Lourdes.

Auf dem Platz angekommen, können wir noch die im Intermarché gekauften Würst¬chen braten. Dann beginnt es zu regnen, und wir müssen unser Mahl im Auto ver¬zehren. Während einer längeren Trockenphase mache ich noch einen Spaziergang auf die Düne, um am westlichen Horizont nach An¬zeichen für das Wetter der nächsten halben Stunde zu suchen. Es sieht nicht gut aus. Während ich auf dem Dünenkamm rumkletterte, um nach dem Wetter zu schauen, kämpfte RR unten mit ihm. Ich war kaum eine halbe Minute weg, als eine Sturmbö das Vorzelt umriß. Bis ich von meinem Erkundungsgang zurück bin, war sie voll damit beschäftigt gewesen, unser Heim gegen einen wüsten Sturm zu sichern, von dem ich auf den Dünen kaum etwas mitgekriegt hatte. Als wir das Iglu am Auto festgebunden haben, hört der Sturm auf, um zwei Stunden später erneut einzusetzen. Wir sitzen im Auto, es regnet nicht, und es ist warm. Unser Iglu wird arg gebeutelt. Liegt fast flach am Boden, doch es richtet sich immer wieder auf. Wie ein Stehaufmännchen. Während wir im Cockpit sitzen, Rotwein trinken, Mundharmonika spielen oder La Paloma frei nach Rosita Serrano singen, tobt um uns herum ein Sturm wie im Windkanal. Solange das Auto nicht wegfliegt, kann auch das flachgepustete Iglu nicht weg. Gegen halb Zwölf trauen wir uns dann in unsere Behausung und sind fünf Minuten später einge¬schlafen. Störend empfinden wir nur, dass manchmal die Seitenwände des Iglus horizontal auf uns liegen und an der Nase kitzeln.

Heute morgen reiste unser Gegenüber, ein Niederländer, ab. Offensichtlich schwuler Endvierziger, der sich dann und wann graziös in seiner Hängematte räkelte, die er zwischen zwei Pinien neben seinem Zelt gespannt hatte. Er trug stets eine Badehose aus beigem Satin. Wenn es kühler wurde, einen beigen Shorts drüber und wenn es kalt war, ein beiges T-Shirt dazu. Pünktlich um 21.00 Uhr verschwand er in seinem Zelt. Jeden Tag wusch er irgendwas aus, was dann akurat auf der Leine hing. Er verspeiste mit gepflegten Tischmanieren sein auf einem Mini-¬Camping-Kocher zubereitetes Essen an einem kleinen Campingtisch. Den gestrigen Regentag verbrachte er im Zelt, einem Iglu mit geräumigem Vorraum, in dem man bequem sitzen konnte. Wir wissen nicht, wie viel Zeit er für den Aufbau des Zeltes verwandt hatte, der Sturm hatte ihm auf jeden Fall nichts anhaben können. Heute öffnete er die Motorhaube seines Autos und entfernte mit einem Pinsel jedes Sandkörnchen. Er brauchte ca. 2,5 Stunden, bis er das Zelt abgebaut und verstaut hatte. Jedes Fleckchen versuchte er mit einem Läppchen, auf das er eine Flüssigkeit getropft hatte, sorgfältig zu entfernen. Alles wurde geputzt und Kante auf Kante gefaltet. Er konnte auch lächeln, wenn er uns auf dem Gang zum Sanitaire freundlich zunickte. Ein herrliches Exemplar von Analcharakter.

Wir wandern am Strand entlang. Meer, Himmel und Sand verändern unablässig die Farben. Über der Brandungsgischt, die der Sturm hochpeitscht, winzige Regen¬bogen. Und dann glauben wir, unse¬ren Augen nicht mehr trauen zu können: In einer durchsichtigen Brandungswelle tummelt sich vergnügt ein riesiger Fisch-Schwarm. Wir halten die Luft an: Jetzt muß die Welle sie an den Strand werfen, doch die Fische tauchen elegant ab und in der nächsten Welle wieder auf... Wir wandern noch eine Stunde durch den feinen, nassen Sand unter dahinjagenden Wolken neben einer tobenden Brandung, in die sich heute nur die abgebrühtes¬ten Selbstmord-Kandidaten auf ihren bunten Brettchen wagen.

Nachmittags beginnt es zu nieseln. Stühle rein. Stühle raus. Dann regnet es immer stärker. Ein junges Paar aus Zwickau nimmt den Platz des abgereisten Holländers ein. Selbstverständlich mit buntem Brett auf dem Autodach. Sie tun das, was wir auch getan hätten: In Regenkutten wandern sie über die Düne, dem Rauschen des Meeres entgegen. Leider regnet es immer noch als sie zurück¬kommen; in Decken eingewickelt sitzen sie im Auto. Und schlie߬lich bauen sie wild entschlossen im Regen ihr Zelt auf.

Heute gibt es nur Hühnersuppe aus der Dose. Um 22.00 Uhr liegen wir auf unseren bequemen Matratzen und sind schon eingeschlafen, während wir noch versuchen, die Bilder in unseren Köpfen zur Ruhe zu bringen.

Nach 10 Stunden Schlaf wandern wir ausgeruht unter einem azur¬blauen Himmel am Strand entlang, umgeben von Möven und Strand¬läufern. Zur Siesta liegen wir eine Stunde am Strand, vor uns der tief¬blaue Ozean. Die Gischt leuchtet in allen Farben des Regenbogens. Dieser Ozean macht süchtig. Beim Abendspaziergang fassen wir uns ein Herz und fragen einen der mit ungeheuer professioneller Miene hinter zwei riesi¬gen Angelruten herumstehenden Angler, was denn das für merkwür¬dige Fische seien. Der Mensch ist entzückt, daß wir uns für französische Fische interessieren und nennt uns den Namen, den wir im Wörterbuch nicht finden. Anyway, es sind Fische, etwa von der Größe einer ausgewachsenen Makrele, die sowohl im offenen Meer als auch in besonderem Maße im Brackwasser der Hafenbecken leben, und die machmal Lust bekommen, sich von den Brandungswellen wiegen zu lassen. Je höher die Wellen desto größer die Schwärme. Die stehen heute wirklich über hunderte von Metern im durch¬sichtigen Grün der Wogen.

Uns war schon seit Tagen aufgefallen, daß keiner der hochpro¬fessionell ausge¬rüsteten Angler auch nur die Andeutung eines Behälters rumstehen hatte, in dem er einen gefangenen Fisch bis zur Bratpfanne hätte parken können. Des Rätsels Lösung: man fing nie einen Fisch. Und man wußte wohl auch, daß man nie einen fangen würde. Die Angelrute diente lediglich zur Legitimation dafür, daß man nicht, faul auf einer Decke liegend, auf den Ozean blickte, sondern diesem, männlich aufrecht, jedem Wetter trotzend, für die Dauer eines Vor- oder Nachmittags Auge in Auge gegenüberstehen konnte. Heute allerdings lassen sich zwei junge Männer vom Jagdtrieb überwältigen. Sie rollen ein ca. fünf Meter langes Netz aus und waten vorsichtig in die Brandung hinaus. Dirigiert von ihren aufgeregt am Strand hin und her laufenden Frauen versuchen sie, dem Fisch¬schwarm in den Rücken zu fallen. Vom Ufer aus meint man, daß Netz müsse gleich von Fischen wimmeln, doch das tut es nicht, die geschuppten Leiber tauchen fröhlich über und unter den Maschen hindurch. Schließlich versucht man das Jagdglück zu zwingen, indem man den Fischschwarm - nicht gerade vornehm - mit Steinen beschmeißt...

Am nächsten Morgen wollen wir einkaufen fahren. Seit Montag haben wir das Auto nicht bewegt, die Räder versinken im Sand. Wir versuchen, es auf festen Grund zu schieben und fahren los, doch es macht seltsame Geräusche. Wir halten sofort wieder an. Der Zwickauer kommt gelaufen: "Ihr linkes Hinterrad blockiert!" Von der Telefonzelle aus rufen wir den ADAC in Lyon an. Malen uns schon aus, dass wir das Auto leerräumen müssen - und dann noch evtl. im Regen... Zwanzig Minuten später kommt ein Mechaniker von Renault - mit einem Abschleppwagen. Er läßt seinen Motor gleich laufen. Setzt sich in unser Auto, fährt mit Gewalt rückwärts und vorwärts - das Auto rollt wieder. Durch Regen, Sand und Salzluft waren die Brems¬scheiben oxydiert. Das kommt zwar sehr selten vor, kann aber passieren.

Unser Adrenalin-Pegel sinkt langsam wieder, und wir fahren am inzwischen Mittags¬ruhe haltenden Intermarché vorbei nach Lit-et-Mixe. Je kleiner der Ort, desto größer die Kirche (wir befinden uns ja immer noch auf einer wichtigen Nebenstrecke des Jakobsweges). Diese hier unterscheidet sich von anderen durch ein schnörke¬liges Spitzdach unter dem eine vergoldete Muttergottes steht. Um sie herum ebenfalls vergoldete Engel, die lautlos in lange Posaunen pusten. Das Kircheninnere ist von verstaubter Banalität. Beson¬ders ekelerregend ein dilettantisch gemaltes, teilweise schon verblasstes Fresco über einem schmuddeligen Seitenaltar. Jesus segnet tote und sterbende französische Soldaten auf einem Schlachtfeld des ersten Weltkriegs... Auf dem Platz vor der Kirche ragt ein hohes steinernes Kreuz mit einem daran hängenden Lattenjupp aus Metall in den azurfarbenen Himmel. Die vom Regen verursachten Rostspuren sehen aus wie getrocknetes Blut...

Ein Kriegerdenkmal gibt es auch. In der Rechten schwenkt er den Siegerkranz, die Linke schleift nachlässig den Karabiner hinter sich, unten trägt er Wickelgamaschen, auf dem Kopf einen Blech¬helm, die Leibesmitte ziert ein Gürtel mit allerlei kleinem Kriegsgerät daran. Richtig hübsch sieht er aus, unser Krieger.

Mehrere Cafés und Restaurants laden ein. Wir beruhigen unsere Nerven mit einem Pastis. Vor dem Café, in dem wir uns entspan¬nen, steht ein größerer Citroen, der eindeutig den Verkehr behindert. Dieser Meinung sind auch die Flics, die zufällig vorbeifahren und dem Besitzer aus dem langsam fahrenden Strei¬fenwagen heraus mit ein paar scharf geblökten Worten zu ver¬stehen geben, dass er das Auto dort wegfahren muss. Was nicht so einfach ist, denn der ca. 60-jährige ist offensichtlich voll¬trunken. Erst als wir hilfs¬bereit ein Reklameschild vom Rande des Bürgersteigs zur Seite schieben, schafft er es, sein Auto ein paar Meter zurückzusetzen. Was ihn so erschöpft, dass er erstmal ein neues Bier trinken muß.

Nachts Gewitter, Sturm, Regen. Wir wachen kurz auf, klappen das Vorzelt runter und legen unser Schicksal in die Hände der Heiligen Veronika. Morgens regnet es, und es sind nur noch 18°. Und das, obwohl uns der ADAC-Mensch gestern versichert hatte, das Wetter bleibe schön! Fazit: Trau nie der Wetterprognose eines franzö¬sischen KFZ-Mechanikers. Um die Ehre Frankreichs nicht zu besudeln, wird er auch im heftigsten Schneesturm behaupten, dass man wunderbares Bade¬wetter habe.

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© Klaus Bölling, Frankfurt 2003
 
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