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Reiseberichte
von Klaus Bölling und Renate Rüthlein
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Dordogne 1999

ein Reisebericht

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Beynac, Sarlat, Abri du Cap Blanc, Les Eyzies, Font de Gaume, Roc de Cazelle, Commarque, Monpazier, Oradour sur Glane
 
Auf dem Camping Le Pont de Vicq bei Le Buisson an der Dordogne schlagen wir am frühen Nachmittag unser Iglu auf. Der Platz ist der Jahreszeit entsprechend fast leer. Der freund¬liche Herr am Empfang muß ziemlich lange nach der Liste mit den Nach¬saisontarifen suchen. Die sind atemberaubend niedrig. Die Sanitäranlagen sind pieksauber. Außerdem endlich mal ein Campingplatz, wo wir die Jüngsten sind. Die sind hier alle so alt, daß sie mit dem Auto zum Klo fahren müssen. In der Mitte des großen Areals befindet sich ein, wie wir zunächst meinen, Fußballplatz. Punkt 21 Uhr wird die Flutlicht¬anlage eingeschaltet. Da üben in der feuchten Dämmerung die Nach¬fahren der Neandertaler die Taktik fürs nächste Rugby-Match (französisch: Rügbi). Unter einem Flutlichtmast in der Nähe des Sanitaire stehend, lauschen wir den gutturalen Kommandorufen des Trainers, der seine kurzbehosten Jungs in weit auseinander gezogener Schützenlinie über den Platz traben läßt, wobei sie sich das Leder-Ei zuwerfen müssen ohne es fallen lassen zu dürfen. Um das Flutlicht schwir¬ren Fledermäuse. Ein französischer Rent¬ner, den ich fragend an¬gucke, sagt freundlich grinsend sich über seine Platte fahrend: des chauves-souris, Kahlmäuse...

Wir sitzen vorm Zelt und schauen auf die samtige Strömung des Flusses, in dem sich das gegenüberliegende bewaldete Steilufer und die schön geschwungenen Bögen des Pont de Vicq im kupfer¬farbenen Gegenlicht des Sonnenuntergangs spiegeln und lassen uns von Guy Lagorce, einem Schriftsteller aus dem Sarladais, auf diese Land¬schaft einstimmen: Zwischen Architektur, Landschaft, Klima und Menschen besteht eine so ausgewogene Harmonie, daß man sich über die eigenen Disharmonien klar wird und sie so fruchtbar werden. Das Tal der Loire ist ebenfalls von vollendeter, ebenmäßiger Harmonie, doch diese Harmonie ist nicht 'aktiv', sie 'durchdringt' einen nicht. Sie existiert. Das ist alles... Auch wenn wir nicht genau wissen, was uns der Dichter damit sagen will, es hört sich gut an.

Auf dem Weg nach Sarlat kommen wir nach ein paar Kilo¬metern auf kleiner gewundener Straße durch einen Ort namens Beynac. Der Name sagt uns nichts. Doch wir müssen einfach anhalten. Wieder eine der plus beaux villages de la France. Wir fahren hoch zum Chateau, das auf einem steilen Felsen 150 Meter über der Dordog¬ne liegt. Alles ist weltberühmt. Und kostet. Nur der Blick auf die Dordogne ist kosten¬los. Den genehmigen wir uns, sowie einen Blick in die Kapelle und einen Rundgang über den Friedhof. Immer sind es die Toten, die den schönsten Blick haben. Ein Grab fällt uns besonders auf. Keine christliche Symbolik. Dafür Friedenstauben und ähn¬liches und, in eine Steinplatte gemeißelt, die Worte: Qui que tu sois, passe, et ne pleure pas (Wer Du auch seist, geh weiter und weine nicht...). Das Grab eines Atheisten. Ihm gönnen wir diesen Blick auf die Dordogne. Ein paar Kilometer Luftlinie entfernt, am anderen Ufer des Flus¬ses, sieht man das Chateau Castelnaud liegen, im Mittelalter, vor allem während des Hundertjährigen Kriegs, der große Rivale von Beynac. Engländer und Franzosen gaben sich gegenseitig die Schlüssel zum Burg¬tor in die Hand, natürlich nicht, ohne sich vorher gründlich massakriert zu haben. In den dreißiger Jahren haben in Beynac Henry Miller und Paul Eluard gelebt. Hinter einer dieser lehmgelben Mauern muß Henry den Satz geschrieben haben: Es bleibt mir eine Hoffnung für die menschliche Rasse, ja sogar für die Erde. Es mag der Tag kommen, an dem Frankreich untergeht, aber die Dordogne wird weiterleben wie alle Träume, die die Seelen der Menschen nähren...

Wir reißen uns los von Beynac und fahren weiter, an rechts und links der Straße liegenden Tabakplantagen vorbei, nach Sarlat. Dort erwartet uns ein völlig intaktes mittelalterliches Stadt¬bild. In der Hochsaison schiebt man sich hier Schulter an Schul¬ter durch die Gassen, die mehr oder weni¬ger zu einer riesigen Freßkneipe umfunktioniert wurden. Unter einem Altar der Kathe¬drale ein gläserner Sarg, in dem die aus Wachs geformte Nach¬bildung der Leiche eines im Jahre 407 gestorbenen Märtyrers ruht. Es riecht nach Tod. Leichter Ekel befällt uns. Im Postkartenladen zählt uns ein freundlicher Conter¬ganmensch mit flinken Fingern, die wie kleine Flügel direkt aus der Schul¬ter wachsen, das Wechselgeld in die Hand. Die Architektur der Gebäude ist von so vollendeter Harmonie, daß wir versuchen, uns die Straßen mittelalterlich ungepflastert und übersät von Unrat vorzustellen. Gleichzeitig stellen wir uns die Frage, woran werden sich spätere Generationen beim Betrachten der Architektur einer Reihenhaussiedlung oder etwa der Skyline der Frank¬furter City erfreuen? Mit diesen melancholischen Gedanken im Kopf verlassen wir Sarlat.

Zwischen Les Eyzies und Le Buisson finden wir in Le Bugue einen Intermarché. Neben anderen Dingen kaufen wir eine Flasche Vin bourru (Federweißer), den wir im Herbst im Rheingau zusammen mit einer Portion Zwiebelkuchen nur glasweise ge¬nießen. Flaschenmäßig fehlt uns die Erfahrung mit diesem Zeug. An der Kasse weist uns ein freundliches Mädel darauf hin, daß der Verschluß ein trou (ein Loch) habe. Ich entgegne welt¬männisch gelassen in meinem elegantesten Küchen¬französisch, das mache gar nichts, ich würde mir eine neue Flasche holen, was verhalten bos¬hafte Heiterkeit bei allen Umstehenden auslöst. Wir werden aufgeklärt, daß das win¬zige Loch im Plastikverschluß der Flasche dazu da ist, den Druck des noch gärenden Weines abzu¬lassen. Was wir als zivilisatorische Leistung neidlos anerken¬nen. Zurück auf dem Platz geraten wir in einen Regenguß, schauen zwei Schwänen zu, die sich mit klatschenden Flügelschlägen gegen die Strömung elegant schwer¬fällig in die Luft erheben, während aus dem Fluß Nebelschwaden aufsteigen. Anderthalb Liter Rot¬wein später, im diffusen Licht des herbst¬lichen Vollmonds, sehen wir zwei lang¬hälsige Schatten, die auf dem träge murmelnden Wasser in entgegen¬gesetzter Richtung vorübertreiben. Außerdem haben wir neue französische Nachbarn be¬kommen. Er bastelt uner¬müdlich am Caravan herum. Sie trägt Kittel¬schürze und linst ab und zu durch die Gardinen. Während wir, Käse essend, auf die Dordogne schau¬en, schraubt er die TV-Antenne am Wohnklo fest. Die Belgier, ein paar Parzellen weiter, haben sogar eine Satellitenschüssel.

Über eine kleine Straße mit vielen Kurven fahren wir zum Abri du Cap Blanc. In einer der Kurven halten wir an. Der Wald ist hier etwas gelichtet und über grünen Baum¬wipfeln sehen wir auf der gegenüberliegenden Seite des Tals der Beune wie eine gemalte Theaterkulisse eine Schlossruine schweben, über der dichte Nebelfetzen treiben und der Szene etwas Unwirkliches verleihen, so dass wir bei der Weiterfahrt nicht mehr sicher sind, ob wir das alles tatsächlich gesehen oder uns nur eingebildet haben. Nach weiteren drei Kurven wären wir fast an dem Parkplatz zu den Sculptures Préhistoriques vorbeigefahren, da er etwas unterhalb der Straße liegt und nur einen einsamen Ford-Transit beherbergt, der das Gepäck einer schwäbischen Radtour-Gruppe transportiert, die gerade zum organisierten Weiterradeln rüstet.

Wir folgen einem feuchten Pfad, der ziemlich steil nach unten führt. Ab und zu tropft es von den Bäumen in den Nacken. Nach ca. 50 Metern ein Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind: ein geschickt unauffällig plazier¬tes, postmodernes Toilet¬tenhäuschen. Nach weiteren 50 Metern stehen wir vor einem Betonklotz, der um den Abri (Abri heißt soviel wie Obdach, Schutz; man meint damit Felsvorsprünge, unter denen die damaligen Bewohner der Gegend Schutz suchten) herum¬gebaut wurde und in dem sich eine kleine Ausstellung, die Kasse und ähnliches befinden. Da wir im Moment die einzigen Besucher sind, haben wir eine freundliche, nur franzö¬sisch sprechende Führerin für uns allein. Außerdem bekommen wir einen Zettel mit Erklär¬ungen in deutscher Sprache in die Hand gedrückt. Als wir vor dem Fries stehen, wo vor über 15.000 Jahren unsere Vorfahren mit großer Kunstfertigkeit Pferde, Rentiere und Wisente in den Kalkfelsen modellierten, verspüren wir zum ersten mal dieses Gefühl aus Ehrfurcht und Beklemmung, das uns immer wieder an der Dordogne überkommen wird. Ehrfurcht davor, zu welch künstlerischen Höchstleistungen einzel¬ne Menschen damals schon fähig waren und Beklemmung beim Gedanken, wie diese Fähigkeiten im Laufe der Menschheitsen¬twicklung, die wir jetzt überblicken können, pervertiert wurden. Die Skulpturen muten so modern an, dass sie auch im 20. Jahr¬hundert hätten entstanden sein können.Es ist übrigens weltweit das einzige Fries dieser Art (1909 entdeckt), das noch von Publikum besich¬tigt werden darf. Auch das Grab eines ca. 20-jährigen Mädchens, 1,58 m groß, sehen wir; die Origi¬nalknochen sind in einem Museum in Chicago verschwunden.

Die Schlossruine, die wir durch die Nebelschwaden sahen, lässt uns keine Ruhe. Laut unserer Karte müsste es Commarque sein. Die folgenden Sätze aus dem Merian-Heft wollen uns einfach nicht aus dem Sinn gehen: Denkmäler der unter¬schiedlichsten Epochen präsentieren sich hier in solch enger räumlicher Nachbar¬schaft, dass jene Distanz aufgehoben scheint, die uns normalerweise vom Erlebnis der Vergangenheit trennt. Wie in der halluzinatorischen Überwirk¬lichkeit eines Zeitrafferfilms ist alles greifbar nah und doch gerade dadurch um so unbegreiflicher. Wer dieses Erlebnis in höchster Konzentration erleben will, sollte sich zwischen Sarlat und Les Eyzies nach jener Abzweigung erkundigen, die zur Burgruine von Commarque führt. Mitten aus einer Landschaft, die so anmutig und harmlos aus¬sieht, dass man nie auf die Idee käme, in ihr irgend etwas Unheimliches oder Ur¬tümliches zu vermuten, sieht man sich plötzlich, kaum ist die Landstraße verlassen, auf einen Waldweg versetzt, wie er ein¬samer nicht sein könnte, und der uns schließlich in ein Tal hinab an den Fuß jener Felswand bringt, die wie eine Bilder¬buchillustration all dessen anmutet, was diese Gegend an histo¬rischer Anschauung zu bieten hat. Der kleine Bach, der zu un¬seren Füßen dahinplätschert, ist übrigens die Beune, ein Zufluß des Dordogne-Nebenflusses Vézère...

Von Cap Blanc fahren wir die Serpentinenstraße abwärts, halten kurz an einem kleinen Seitenweg, der zur Burgruine führen müsste, doch wir sehen nur zwei gut erhaltene, aus grauem Stein gebaute, fast völlig mit Moos bewachsene Cabanes, Rundhütten, die früher den Hirten bei schlechtem Wetter Schutz boten. Durch die Wälder des Périgord Noir - Schwarzer Périgord genannt wegen der Wälder aus immergrünen Eichen, die von oben bis unten mit Efeu bewach¬sen sind - sollte man nur mit einem Trüffel¬schwein an der Leine wandern. Immer wieder fällt leichter Nieselregen. Nördlich von Les Eyzies gelangen wir in das Tal der Vézère. Linker¬hand sanfte Hügel mit Wiesen und Wäldern. Der Regen ver¬stärkt die Farben, es glitzert und funkelt in allen Grüntönen. Rechts erheben sich steile Felsforma¬tionen, das Buschwerk gibt immer wieder den Ausblick auf Felsüberhänge, die sogenannten Abris und die Eingänge von Höhlen frei. Über der vallée de l'homme, dem Tal des Menschen liegt die Ruhe und Gelassenheit einer alten Kulturland¬schaft, in deren Humus aus Geschichte die Schritte des Wanderers lautlos ver¬sinken - wenn er nicht gerade neben einer Gänsefarm anhält..

Auf einem Parkplatz mit riesigem Reklameschild, auf dem Parc Préhistoland steht, halten wir an. Erst sind wir etwas skeptisch, da wir keine Lust auf ein prähistorisches Disneyland haben, doch dann siegt unsere Neugier und da nur noch zwei weitere Autos auf dem Parkplatz stehen, klemmen wir uns die Schirme unter den Arm und kaufen Eintrittskarten. Wir wandern unter hohen Laubbäumen, deren Kronen ein dichtes Dach über uns bilden. Von den Blättern fallen vereinzelt Trop¬fen. Ab und zu ein Sonnenstrahl. Wir begegnen Neandertalern aus Plastik, die Rentiere und Wisente aus Plastik erlegen. Wir sehen ihre Wohnung unter einem Abri, wo sie Felle bearbeiten und die Alten sich am Feuer wärmen. Wir hören fasziniert, wie ein Mammut durch das Unterholz stampft und in eine Falle gerät. Und wir sehen die Cro Magnon-Menschen. Wir sehen die Unterschiede zum Neandertaler - sowohl im Aussehen als auch Waffen und Geräte betreffend. Die Sippe der Cro Magnons könnte ebensogut eine Hippie-Familie sein (Abbé Breuil: Wenn er Ihnen abends in der Metro begeg¬nete, würde er Ihnen nicht weiter auffallen...). Alles ist mit sehr viel Liebe zum Detail und nach dem neuesten Stand der Wissenschaft gestaltet. Ein Museum der besonderen Art. Anrührend die Grablegung eines Mannes. Ein Scha¬mane schamant. Eine junge Frau sitzt in Hockstellung neben der Leiche, das Gesicht in den Händen vergraben. Von der imaginierten Wirklich¬keit dieser Szene trennen uns ca. 15.000 Jahre Entwicklungsge¬schichte der menschlichen Rasse. Doch wir können mittrauern. Ein halbes Jahr später in Frankfurt fällt uns zufällig Malraux' LAZARUS in die Hände, wo zwischen vielen dunklen Worten diese paar hellen Sätze aufleuchten: Was ist das Abenteuer des Menschenlebens? ... Der Schnee an den Ufern der Vézère, wo wir im Winter 1943 zwischen der berühmten Höhle von Les Eyzies und der noch unentdeckten von Lascaux unsere Waffen versteckt hat¬ten: Da habe ich mich gefragt, indem ich mir ferne Rentierherden im prähistorischen Schnee ausmalte, ob nicht der Mensch geboren worden ist, als er zum erstenmal beim Anblick eines Leichnams geflüstert hat: 'Warum?' Seither hat er sich da oft wiederholt. Ein unermüdliches Geschöpf...
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© Klaus Bölling, Frankfurt 1999
 
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